Montag, 28. Januar 2013

Von meinem zweiten Ich und Milchreis mit Schmand

Da ist er schon vorbei - mein erster "Kochtag"!

Heroisch stand ich stundelang hinter Herdplatte und Kartoffeleimer.
Mein güldenes Haar flatterte anmutig im Wind! Nein - mal im Ernst:
Mit Svantje* (Name geändert) zauberte ich heute so manches auf den Tisch.
Da sie als einzige Bewohnerin in diesem Haus halbwegs solides Englisch spricht, wurde sie mir für diesen Kochtag an die Seite gestellt.
Zum Frühstück gab's wie jeden Morgen Porridge - diesmal mit Pflaumen, Zimt und Rosinen.
Zum Mittag dann reichlich deftiges Kartoffelpüree, Tomatensoße und Fischstäbchen, dazu Salat und Brot, und als Nachtisch etwas von einem aus dem Porridgerest zubereiteten Haferküchlein.
Ratlos ging ich ans Abendessen - entschied mich dann für Reis mit Rahmgemüse, verschätzte ich beim Reis jedoch so fatal, dass für uns 10 Personen noch eine genügende Menge Milchreis raussprang, der für die Esten zunächst unbekannt aussah - doch er fand anklang und war alsbald leer.
Es freut mich, dass mein Milchreis so gut ankam - beim Anblick von Hapukoor (ich erinnere: die estnische saure Sahne, die ÜBERALL ihren Weg ins Essen findet) auf Milchreis, fing mein Herz an zu bluten, ich enthielt mich jedoch einer offenen Wertung.
Fazit: Allen hat es gefallen, von Artjom* (Name geändert) gab es zum ersten Mal ein englisches "Thank you!", was mich sehr gefreut hat. Wenn es nach dem Tischgespräch von Bewohnern und Arbeitern geht, soll ich das Haus nie mehr verlassen und als Sklave für alle Mahlzeiten sorgen.
Das fasse ich erstmal als Kompliment auf. Bezüglich des Kochens bin ich jedoch sehr erfreut und zufrieden.

Letzten Donnerstag habe ich beim Einkaufen im Supermarkt zweimal hintereinander antworten dürfen, dass ich weder Este noch Russe sei, denn dort wurde ich zweimal unabhängig voneinander gefragt, ob ich denn Russe sei. Zweiteres Mal wurde ich sogar gleich auf Russisch und nicht auf Estnisch angesprochen. Zum Glück konnte ich weiterhelfen.
Doch im Ernst: Sehe ich so russisch aus?

Heli und ich in einer kleinen Bar in Tartu!
Zur Geschichte des Fotos: Ich versuche zu erklären, was ein Walross ist.
Samstag Abend ging es ein erstes Mal auf, das Nachtleben von Tartu zu erleben. Drei Pubs/ Bars und viel Bier und Tischkicker. Unsere Runde: Vier Tschechen, ein Franzose, zwei Esten und ich als Deutscher. Eine schöne Runde. Super Essen, tolles Bier, viel Spaß am Kickertisch.
Um kurz vor 5 Uhr fiel ich zufrieden in das Bett der Wohnung, die dem Projekt in Tartu gehört.
Ein schönes Wochenende.








Meine Woche geht nun weiter ihren Lauf. Morgen darf ich nochmal putzen und Haushaltsaufgaben stehen an und ab Mittwoch kommen für mich wieder Workshop-Tage. Nächste Woche findet dann zu ersten Mal meine Woche in Rootsi Maja statt. Ich bin gespannt. Bei meinem Besuch von Heli (Name NICHT geändert), meiner tschechischen Mitfreiwilligen, die bald mit ihrem Dienst fertig ist, im Rootsi Maja durfte ich schon ständig von Bewohnern hören "Am 4. Februar kommt Marcel" - also bin nicht nur ich gespannt.

Dafür gleich noch eine neue Erkenntnis:
Der Spruch "Iss auf, sonst gibt es morgen kein schönes Wetter!" existiert in Estland auch!

Mit Grüßen,
Marcel

Donnerstag, 24. Januar 2013

Zu viele Ö's!

Mein Heim: das Vana Maja
Hier ist er: Der erste ausführliche Post aus dem kleinen Reich der Esten.
Nach meiner ersten Einführungswoche, die jeden Tag spätestens nach dem Mittagessen mit "So now you can do, what you want!" aufwartete, habe ich diese Woche mit der Arbeit richtig angefangen.
Wer es noch nicht weiß:
Ich arbeite in einem teilautarken "Dorf" - Maarja Küla (küla = Dorf). Vergleichbar ist das Projekt in etwa mit dem Arche-Projekt - nur eben anders.
Das Dorf besitzt fünf Häusern, in denen Bewohner und Arbeiter wohnen. Die teilweise ähnlich gebauten Häuser tragen die Namen "Estnisches Haus" (Eesti maja), "Deutsches Haus" (Saksa maja), "Skandinavisches/ Nordisches Haus" (Põhjala maja), "Freundehaus" (Sõbra maja) und "Schwedisches Haus" (Rootsi maja). Zunächst werde ich im Rhythmus von je zwei Wochen in den beiden letzten Häusern arbeiten. Rootsi und Sõbra maja. Diese Woche begann mit letzterem doch dazu gleich mehr.


Im Dorf gibt es zu dem noch das Külakeskus (Dorfzentrum), sowie ein Gebäude mit Werkstätten für Töpfern, Holzarbeiten, Handarbeiten, u.Ä., die Sauna (die ich selbst auch schon besucht habe - mit Sprung ins Eisloch im Dorfteich versteht sich), ein paar Schuppen und das Vana Maja (altes Haus), in dem Zimmer für Arbeiter und die Freiwilligen untergebracht sind - also auch mein Zimmer - sowie andere Räume (etwa Computer, Toiletten und die Küche für die Freiwilligen und die Schule - also jene Personen, die in Maarja Küla die Schule oder die Werkstätten besuchen, aber nicht hier wohnen - sie kommen jeden Tag mit dem Bus). Das Vana Maja habe ich schon mehrmals unfreiwillig umbenannt. Auch wenn ich immer "nur" einen Vokal vertauscht habe - so sagte ich "Vene Maja" statt "Vana Maja" - habe ich damit ausgedrückt, dass ich jetzt nicht ins "alte Haus" sondern ins "russische Haus" gehe. Verrückte Welt!
Zehn Minuten zu Fuß entfernt durch den Wald erreicht man die Bushaltestelle, die einen in Windeseile viermal am Tag nach Tartu (die nächstgrößere richtige STADT mit ca. 100.000 Einwohnern auch die zweitgrößte Stadt in Estland) oder Põlva bringt. Põlva ist die nächstgrößere Gemeinde mit 6.000 bis 12.000 Einwohnern - so sicher waren sich die Esten beim Erklären da auch nicht. Immerhin reicht Põlva's Größe aus, um dem Landstrich Põlvamaa (maa = Land - bspw. Saksamaa = Deutschland/ Venemaa = Russland) seinen Namen zu geben.
Aus dem Dorf heraus in die andere Richtung erreicht man in 2-5 Minuten Fußmarsch einen wunderbaren Fluss, der zunächst optisch wie ein See wirkt. Leider gab es in der letzten Woche ausgerechnet einen Tag mit schlechtem Wetter - wie sollte auch anders sein: genau an dem Tag, an dem ich die Kamera ausgepackt habe.
Für Fotos aus meiner Wunderwelt ist also gesorgt.
Das Sõbra Maja ist vorne rechts.
Hinten rechts zu sehen ist das
Saksa Maja - das deutsche Haus
Wie bereits erwähnt arbeite ich diese Woche im "Freundehaus" - "Sõbra Maja". Die ersten beiden Tage dieser Woche hatte ich dabei quasi Hausdienst. Will heißen: der Hausleiterin beim Bereiten des Essens und beim Aufräumen/ Reinigen zu helfen - unterstützt von zwei Bewohnern. Des weiteren habe ich Artjom* (* ich werde in meinem Blog zu jedem Zeitpunkt die Namen - insbesondere die der Bewohner abändern! Die Namen entsprechen daher NICHT den tatsächlichen Namen) beim Tagesablauf geholfen. Artjom ist von Muskelabbau betroffen und sitzt im Rollstuhl. Essen, Waschen und Ähnliches ist für ihn zwar kein Problem - beim Ankleiden und Ähnlichem ist Hilfe von Nöten.

Nach diesem Jahr werde ich dank ihm sicherlich der geduldigste Mensch aller Zeiten sein!

Heute war mein erster von drei Workshop-Tagen in dieser Woche. Workshop-Tag will heißen, dass ich an den Workshops in den Werkstätten teilnehme. Heute hieß das für mich, einen Teller und viele kleine Vögel aus Ton zu formen, die nach dem Brennen zusammen mit den Werken von den Bewohnern in den Hausbedarf oder in den Maarja Küla Pood - den Maarja Küla Shop - wandern. Das Dorf unterhält sowohl in Põlva, als auch im Lõunakeskus (einem Einkaufszentrum) in Tartu einen kleinen Laden, an dem Produkte wie etwa Teppiche und Keramik verkauft werden, die im Dorf produziert werden. Im Laden selbst arbeiten dabei auch Bewohner. Das Projekt unterstützt das Arbeitsprojekt, dass Bewohnern die Möglichkeit geben soll, selbstständig für sie geeignete Arbeitsplätze zu finden, die auf ihre Wünsche und Fähigkeiten angepasst sind.
In diesem Eisloch war auch ich bereits!
Zu sehen: Die Dorfsauna!
Der Verkauf ist nicht als Einnahmequelle für das Dorf gedacht, deckt aber immerhin seine eigenen Kosten - die Bewohner verdienen also auch daran, dass sie arbeiten dürfen. Im Mittelpunkt des Konzeptes um den Pood (Shop) steht also, den Bewohnern eine Möglichkeit zu geben, etwas zu schaffen und zu erarbeiten, dass Ihnen Spaß macht, und Ihnen somit einen Verknüpfungspunkt zur lokalen Gesellschaft zu geben.
Estland an sich arbeitet sich so langsam in mein Herz. Gerade im Supermarkt oder auf den Straßen  erlebe ich beispielsweise nichtsdestotrotz kleine Kulturschöckchen. So ist es mir derweilen unbegreiflich, warum man Milch in Tüten, anstatt in Flaschen oder Tetrapacks verkauft. Aber ok: andere Länder, andere Milchprodukte.
Apropos Milchprodukt: Solltet ihr einen schwachen Magen haben, so empfehle ich euch die estnische Hausmannskost NICHT zu essen!
Lecker war es bislang fast immer, allerdings habe ich mich noch nicht an die Kalorienfülle, die Kohlenhydrate und den Fettgehalt gewöhnt. Die ersten Tage hatte ich starke Magenprobleme. !Ich brauche hier irgend einen Sport!", denke ich jedes Mal am Esstisch und ärgere mich dabei, dass ich meine Joggingschuhe nicht eingepackt habe. In drei Monaten möchte ich nicht wie Rainer Kalmund aussehen. Bitte nicht.
Egal ob im Restaurant oder bei der Arbeit: Öl und Hapukoor/ Happukoor (ich bin mir über die Schreibweise gerade nicht im Klaren) verfolgen einen überall hin. Hapukoor/Happukoor kann man in etwa mit saurer Sahne vergleichen - nur, dass es in Estland ÜBERALL landet. Zu den Nudeln - Hapukoor! Zu Kartoffeln - Hapukoor! Über den Frühstückshaferbrei - Hapukoor. Auch Milch, Kefir und Joghurt sieht man zu jeder Tageszeit auf dem Esstisch. Warmes Essen von früh bis spät - auch daran muss ich mich ersteinmal gewöhnen.
Die Sprachkenntnisse - nun ja - werden ausgebaut. Arbeitssprache für mich ist Englisch - teilweise rede ich am Tag nur mit mir selbst Deutsch. Mit einer Arbeiterin im Sõbra Maja quetsche ich das notwendigste auf Russisch zusammen - sie spricht kein Englisch und ich kein Estnisch/ Võru (südestnischer Dialekt). Mein Selbstlernerkurs wird derweilen jeden Tag gezückt. Mein offizieller Sprachkurs wird am 5. Februar beginnen und zweimal wöchentlich an der Uni von Tartu in englischer Sprache gehalten - von der Mutter einer Bewohnerin meines Arbeitshauses. Denn die lehrt als Englisch/Estnisch-Professorin an der Universität :-)
Im deutschen Institut von Tartu sollte der Kurs ursprünglich stattfinden, jedoch - wer hätte das gedacht - mangelt es an estnisch-lernwilligen Deutschen in Tartu.
Auf den Beginn des Kurses freue ich mich bereits. Kaum kann ich es erwarten, mich richtig reinklemmen zu können, denn im Moment würde ich nur allzu gern verstehen, was da am Esstisch oder in den Bussen palavert wird. Mein Russisch- und Estnisch-Zeug steht fürs Lernen schon in den Startlöchern.


Oft breche ich in den abstrusesten Situationen in Gelächter aus. Grund ist, dass die estnische Sprache ähnlich der finnischen Sprache alles so schreibt, wie sie es ausspricht. Zwei Vokale bedeuten, dass dieser Vokal lang ist. Zwei Konsonanten bedeuten NICHT (wie im Deutschen), dass der vorherige Vokal kurz, sondern der Konsonant lang ist. Buchstaben wie das X, das Z oder das C trifft man nur in fremden Wörtern.
Aus der Physik wird die Füüsik, aus Möbeln werden Mööbel und aus dem Express der Ekspress.
Das ist zwar nicht ungewöhnlich, sieht für das deutsche Auge jedoch auf den ersten Blick lustig aus.
Gleich verhält es sich mit den langen Vokalen, bei denen ich nicht weiß, wann man mit dem Sprechen aufhören soll. Eine wahre Obsession haben die Esten anscheinend im Buchstaben "Ö" gefunden.

Töö = die Arbeit

Söö = das Essen

Öö = die Nacht

töööö = die Arbeitsnacht/ Nachtschicht

öötöö = die Nachtarbeit

Auch deutsch-klingende Wörter sind keine Seltenheit. Ich erinnere an "mööbel", möchte aber auch "bakpulver", "nelk" und "švamm" (š = sch) erwähnt haben.

Mit diesen Worten zum Mittwoch soll es das erst einmal gewesen sein.
Mehr Stuß aus dem estnischen Wald gibt es sicher in Kürze!
Liebe Grüße,
Marcel




P.S. Die Esten scheinen sich wirklich alle zu kennen. Estland ist ein Dorf!
Andächtig den Geschichten der Hausleiterin des Sõbra Maja lauschend, vielen oft die Namen hochrangiger Esten. Darunter auch Sponsoren des Dorfes und wichtiger Politiker, Professoren und Poeten. Man verdeutliche sich: Estland ist etwas kleiner als Niedersachsen und besitzt dabei mit 1,4 Millionen in etwa die Einwohnerzahl vom Großraum Leipzig-Halle. Von hier aus gesehen liegt die russische Grenze (ca. 30 km) näher als Tartu (ca. 50 km)!
Die Esten sind vielleicht nicht viele, aber sie machen sich! :)

Donnerstag, 17. Januar 2013

Viva Estonia! :-)

Ein kurzes Lebenszeichen von mir.
Hallo! Ich lebe! Mir geht es blendend!
Ich bin in Estland - mein Gepäck nicht - das wird mir gerade nachgeschickt.
Aber was soll's!?

Dinge, die ich schon getan habe:

  1. mit arger Verspätung gut gelandet und mit dem sympathischen Chaos-Trupp durch Lettland gekurvt
  2. die lettisch-estnische Grenze zu Fuß überschritten
  3. Tischkicker gespielt
  4. sauniert und ins Eisloch gesprungen
  5. eine estnische Handynummer erworben (Wer sie möchte, soll sich bitte melden!)
  6. von estnischem Essen Bauchweh bekommen (Fett!)
  7. in Tartu und Põlva und Vaste-Kuuste gewesen
  8. ID-Kartenantrag begonnen
  9. einzigartige Landschaft gesehen und Kinnlade nicht mehr hoch gekriegt (!)
  10. von einem Tschechen abgefüllt werden
  11. bei der Spaßkabbelei mit einer Bewohnerin angefangen ein klitzekleines bisschen zu bluten
  12. "GALILEO" mit estnischen Untertiteln und estnisches Glücksrad gesehen 
  13. tausende Lachanfälle gehabt
Wie gesagt: Mir geht es im Moment super gut. Morgen und übermorgen geht es wohl nochmal nach Tartu. Diese Nachricht fällt nur spärlich aus.
Bitte seid euch bewusst, dass ich gerade hundertmilliarden Eindrücke und Gedanken habe. Ich schaffe es einfach nicht, jedem zu schreiben und lange online zu seien.
Es ist so vieles neu, dass ich die Zeit zum verarbeiten, Neues erleben und (wie immer) Orga-Kram brauche.
Ich melde mich in einer freien Minute und bringe Fotos mit.


Nägemist!
Lg, Marcel


P.S. Neue Kategorie im Blog:
Schaut in die rechte Randspalte, denn dort seht ihr absofort mein aktuelles estnisches Lieblingswort. Die Sprache ist sehr cool und witzig und ich bin mir sicher, dass ich oft neue Worte finden werde. Nebenbei könnt ihr etwas estnisch mitlernen! :-)

Samstag, 12. Januar 2013

Это Россия!



Weil ich noch etwas abzuarbeiten habe, gibt es vor dem Berichten aus Estland erst einmal Geschichten vom 4-Städte-Trip Leipzig-Berlin-Helsinki-St. Petersburg.
Leipzig Hauptbahnhof, 27. Dezember 2012 – etwa 9 Uhr
Der Interconnex von Leipzig nach Berlin setzt sich in Bewegung – ich mich folgerichtig ebenso.
Auf Platz 9D im Wagon 5 grinse ich der vom Himmel strahlenden Sonne entgegen.
Es ist auffällig warm an diesem Tag - für Ende Dezember zumindest. 8 Grad Celsius.
Und während sich mein Zug über Sachsen-Anhalt und Brandenburg bewegt, denke ich bereits an meine bevorstehende Reise. Ein Tag Berlin, ein Tag Helsinki, elf Tage St. Petersburg.
Deutschland, Finnland, Russland. Letzteres im Übrigen zwei Länder, die ich vorher noch nie gesehen habe.
In Berlin angekommen versperre ich mein Gepäck im Hauptbahnhof, ziehe den herausnehmbaren Innenteil aus meiner Jacke (13 Grad in Berlin) und breche zum Sightseeing auf. Schnell wird mir klar, dass meine Sightseeingroute, die ich mir so in etwa im Kopf und auf dem Stadtplan zusammengesponnen hatte, nicht ausreicht. Letztendlich bin ich doch anders gefahren und habe mehr gesehen, als ich mir vorher zugetraut hätte.
Mit dem Regierungsviertel begann ich meinen Stadtspaziergang vom Bahnhof am Kanzleramt vorbei zum Reichstag und dem Brandenburger Tor. Das erste Mal in der Hauptstadt (abgesehen von Durchfahrt und Abflug am Flughafen) – mit 18 Jahren als Deutscher eigentlich deutlich zu spät. Schnell finde ich Gefallen an Berlin als Stadt. Ich fühle in etwa Gefühle wie in London – eine tolle Stadt – vielleicht nichts für mich zum dauerhaft leben, aber garantiert für die Erkundung.
Angetan bin ich insbesondere von der U-Bahn ( ich liebe U-Bahnen) und dem Reichstag, größer vorgestellt hätte ich mir jedoch das Brandenburger Tor. Kurz nach eben jenem beschloss ich im Übrigen, meine Tour abzuwandeln. Radikal.
Einfach in die S-Bahn und drauf los fahren.
Hackesche Höfe, Alexanderplatz, Fernsehturm, Potsdamer Platz – und zum zweiten Mal an diesem Tag gerät mein Weg zum Brandenburger Tor, wo das Bärenmaskottchen inzwischen seinen Kopf abgenommen hat, um genüsslich im Touri-Tumult zu rauchen.
Bei meinem Spaziergang durch Parklandschaften in Richtung Sowjet-Denkmal fängt der Regen an. Die Bauarbeiter, die gerade die Straße von der Siegessäule zum Brandenburger Tor für die Silvesterfeier herrichten, fluchen, was das Zeug hält. Als ich am Gendarmenmarkt ankomme, reißt die Wolkendecke kurz auf. Genug Zeit, um über das Sachsenhaus zu lächeln. Schloss Bellevue schaffe ich noch, doch als ich auf dem Weg zum Holocaustmahnmal in etwa bei Eintreffen der Dunkelheit das dritte Mal am Brandenburger Tor bin, breche ich meine Tour ab, da der Regen wieder stark einsetzt. Also auf zum Bahnhof, Gepäck geschnappt und exotische Berliner Küche getestet und Bratwurst verzehrt. Noch schnell ein Paar Postkarten eingesackt und auf geht’s nach Tegel.
Als ich von der Schwester meiner Freundin dort noch einmal ein Paar Mitnamegeschenke kriege, reißt eine kleine Naht an meiner Kraxe. Was soll`s. Wird schon.
Kurz nach 21 Uhr hebe ich ab. Atemberauben. Das nächtliche Lichtermeer von Berlin fasziniert mich – ebenso wie der Service von AirBerlin. Durchaus: Economy Class samt Snack und Gratis-Getränke mag nichts Besonderes sein, aber nach Ryanair-Erfahrungen fühle ich mich wie im fliegenden Marriott.
Über Estland blicke ich aus dem Fenster: Klarer Himmel, doch so gut wie nichts zu sehen. Dunkler Boden. Keine Lichter. Cool… J
Der Landeanflug über Finnland raubt mir wieder den Abend. Die Lichter, die vom Schnee reflektiert werden, sind wieder unglaublich schön. Ebenso die Landung. Weich wie ein Baby-Popo.
Im Flughafen Helsinki-Vantaa einen Platz im Durchgang zwischen den Terminals gesucht, wo andere Schlafende lagen … doch ich wurde vom Finnengott leider nicht mit Schlaf bedacht. Um etwa 4.30 Uhr gebe ich den Versuch auf. Rumlaufen, Tee trinken, Frühstücken. Kurz nach 6 Uhr löse ich ein Ticket und fahre nach Helsinki ab.
Am Rautitieasma (Hauptbahnhof Helsinkis) das gleiche Spiel wie in Berlin:
Gepäck verstaut und ab auf Fotosafari – allerdings um halb acht. Wer hätte es gedacht: Ich bin noch der erste Tourist – und wieder ist meine Tour länger als gedacht.
Doch Helsinki fasziniert mich ebenso. Domkirche, Senatsplatz und russisch-orthodoxe Uspenski-Kathedrale – Helsinki ist seine Reise wert! Wer weiß: vielleicht schaffe ich es von Estland aus ja noch einmal die 80 km über die Ostsee nach Finnland. 
Als am Hafen die Sonne langsam aufgeht und die Marktstände allmählich aufgebaut werden, betrete ich die alte Markthalle, in der an vielen Ständen Rentierschicken, Elchfleisch, Messer, Spirituosen, Backwaren, Felle, Leder und vieles mehr verkauft werden. In der Mitte der rustikalen Halle frühstücke ich ein zweites Mal – eher klein, denn alles ist relativ teuer - wie alles an Nahrungsmitteln, dass ich in Helsinki gesehen habe. Köstlich waren die finnische Blätterteigtasche mit Ei und Käse und der schwarze Kaffee trotzdem. Eine Wirkung scheint letzterer aber nicht zu haben – in der Straßenbahn schlafe ich ein und fahre beinahe bis zur Endstelle. Was soll‘s – ich habe ja ein Tagesticket.
Wieder im Stadtzentrum angekommen, bekomme ich einen Schock, als ich auf die Uhr blicke. Alles ist abgearbeitet, was mir einfiel, und trotzdem zeigt die Uhr erst eins an. Ähnlich in Berlin habe ich auch hier Sehenswürdigkeiten mehrmals gesehen. In etwa die Uspenski-Kathedrale und die Domkirche, die bei meinem ersten Besuch noch geschlossen waren. 
Gegen 15 Uhr schmerzen meine Füße. Ich bestelle im Rautatieasma einen Kaffee und nippe daran, während ich die Bahnhofshalle beobachte. Hektisches Treiben. Züge nach Moskau, Tampere, Turku und Kuopio. Wunderbar anzusehen. Irgendwann greife ich mein Gepäck aus der Lagerung im Keller, erstehe noch ein paar letzte Dinge in Euro und warte noch etwa zwei Stunden auf den Zug. Der Allegro ist pünktlich da. Wir steigen ein. Neben mir ein freier Platz – in meinem Abteil nur Russen.
Wir setzen uns in Bewegung. Mit 220 km/h rauschen wir von Helsinki nach St. Petersburg. Mir wird flau im Magen – nicht wegen der Geschwindigkeit, sondern aus Vorfreude.
Nach etwa zwei Stunden gelangen wir zur Grenze. Finnische Passkontrolle, finnischer Zoll, Russische Passkontrolle, Russischer Zoll. Alles geht glatt mit meinem Pass, meinem Visum und meiner Migrationskarte. Ich bestelle einen Kaffee auf Russisch. Meine erste Bestellung auf Russisch. Innerlich kichere ich. Der Grenzstreifen erinnert mich ein wenig an Filme über die deutsch-deutsche Teilung. Nur noch Vyborg und um ca. 23. 30 russischer Zeit – nach drei Stunden Fahrt – erreichen wir St. Petersburg. Große Begrüßungszeremonie am
Финляндский вокзал.
Wir laufen zur Wohnung meiner Freundin und beginnen die Weihnachtsbescherung – etwas mehr als  ein Drittel meiner Kraxe ist mit Geschenken von Familie, Freunden und mir gefüllt.
Die Zeit in St. Petersburg war eine wunderbare Zeit. Diese Stadt ist unvergleichbar mit anderen Städten, die ich bislang sehen durfte. Russland gefiel mir sehr gut und ich habe beschlossen, aus Estland heraus noch einmal auf einen Besuch vorbei zu kommen.
Weil ich in erster Linie nicht aus touristischen Zwecken hier war, war mein Programm eher das gewöhnliche Touriprogramm einer Kurzreise.
Sightseeing mit Peter-und-Paul-Festung, Auferstehungskirche, Stadtspaziergang den Nevskiy Prospekt entlang und viele Sinnlosaktionen.

Ich fasse Russland zusammen:

Ein Knochen im Briefkasten – Das ist Russland!
Ein Waschbecken auf dem Schrank – Das ist Russland!
Wodkageruch in der prunkvollen Metro – Das ist Russland!
Herabstürzende Gardinenstangen, die mich erschlagen – Das ist Russland!
Schmerzen kühlen mit Pizza – Das ist Russland!
Leckende Abflüsse nachts um zwei – Das ist Russland!
Wunderbare Feiern in der Chaos-WG – Das ist Russland!
Wasser ohne Idealtemperatur – Das ist Russland!
Knarrende Wasserhähne – Das ist Russland!
Coole Obstverkäuferinnen – Das ist Russland!
Schweine im Kuchen – Das ist Russland!
Blinklichter und stilllose Pelze – Das ist Russland!
Böse guckende Menschen – Das ist Russland!

Werft die Gläser an die Wand! Russland ist ein schönes Land! Hahahahaha!
Jedem, der noch nie im tieferen Osteuropa war, sei gesagt, dass es sich lohnt. Land und Leute, sowie Essen (Blinis, Kascha, Pischkis oder Pelmeni sind der Hit!), Sehenswürdigkeiten, Lebensweise und besonders St. Petersburg sind genial – insbesondere mit den richtigen Leuten!
Vergesst Mallorca! Vergesst New York! Vergesst Paris, Hurghada und Ibiza!
Bucht zum Beispiel mal Russland oder Finnland!
Es lohnt sich!

Und weil ich noch soooo viel sagen könnte, aber Bilder bekanntlich mehr sagen als Worte – hier nochmal ein paar Ausschnitte!

Einmal bitte HIER klicken!

Stürzende Stangen -
kühlende Pizzen
Dinge, an die man sich erst einmal gewöhnen muss, gibt es viele – in allen drei Destinationen.
Die grandiose Sicht aus der Berliner S-Bahn bei Sonnenschein zum Beispiel, aber auch das Schlafen an Flughäfen, nachts um drei (als man dann doch mal weggenickt ist) von finnischen Grenzern geweckt zu werden, die Preise in Helsinki, die Menschenmassen in der Millionenstadt St. Petersburg, das Einkaufen in russischen Supermärkten, russische Weihnachtsdekorationen, die finnische Sprache, schreckliche Umschriften auf Kyrillisch, das Erschlagenwerden von Gardinenstangen, Probleme auf russische Art (nicht schön soll es sein - es soll funktionieren!), die Distanziertheit bei der ersten Begegnung mit Russen, die fälschlicherweise wie Unhöflichkeit interpretiert werden kann, das Reden und Bestellen auf Russisch.
Die Reise war mega. Wie sehr, dass kann man durch Erzählungen gar nicht glauben. Erlebt es einfach und kommt nach Osteuropa – es ist definitiv eine Reise wert!


Eine schöne Zeit euch!
Liebe Grüße,
Marcel