Montag, 8. Juli 2013

"Valged Ööd" und "Külapuhkus"

Wiedereinmal ist Zeit ins Land gestrichen und mit großen Schritten nähere ich meinem "Bergfest", also meiner Halbzeit. Genau eine Woche bleibt mir noch, dann sind schon sechs Monate ins (estnische) Land gegangen.
Doch ersteinmal gibt es von zwei wichtigen Dingen zu berichten:

1. Jaanipäev, der Mittsommerwende (als die Sonne nie ganz weg war)
2. Külapuhkus, der Dorfurlaub mit fast allen Bewohnern

Zunächst habe ich also den Jaanipäev verbracht, den Johannestag - jener Tag an dem die überstandene Mittsommernacht gefeiert wird. Umrahmt wird die kürzeste Nacht/ bzw. der längste Tag des Jahres von den ohnehin kurzen "weißen Nächten".

Ungefähr zum Scheitelpunkt der längsten Nacht des Jahres





Wikipedia sagt dazu:
Weiße Nächte sind Nächte, in denen die Sonne nur für kurze Zeit untergeht, so dass es auch nachts dämmrig oder hell ist. Weiße Nächte kommen an allen Orten vor, die etwa zwischen 57° nördlicher Breite und dem Nordpol beziehungsweise 57° südlicher Breite und dem Südpol liegen.
Das bedeutet als im Kurztext, dass die Sonne nur einmal kurz hinter den Horizont läuft, dort "abschlägt" und wieder zurückkehrt. Praktisch heißt das für mich, dass ich lange die Sonne genießen kann, was meinen Tagesrythmus leicht durcheinander bringt. Oft ist es mir und anderen schon passiert, dass wir um neun Uhr abends verdutzt auf die Uhr schauen und sagen "Ich dachte, wir hätten es erst um sechs."
Johannesfeuer bei der Dorffeier
Praktisch sind weiße Nächte allemal. Wenn man gegen 23 Uhr vom Bus durch den Wald nach Maarja Küla läuft, ist es nicht ganz dunkel und man kann auch noch gegen 19 Uhr abends Wäsche draußen aufhängen, die man dann gegen 22 Uhr (immernoch bei Licht) wieder abnehmen kann.
Die Nacht vom 23. auf den 24. Juni ist die Nacht des Jaanipäevs, an dem in ganz Estland Feuer entzündet werden. Es wird gesungen, getanzt und viel gegessen und getrunken. Zahlreiche Traditionen und Mythen ranken sich um diese Nacht.

Hier ein Auszug:
  1. Geht eine junge Frau in dieser Nacht in den Wald, um neun verschiedene Blumen zu sammeln, dann muss sie diese unter ihr Kopfkissen legen. Der erste Mann, den sie darauf in ihrem Traum sieht, ist ihre wahre Liebe. Darüber darf sie aber mit niemandem reden.
  2. Wer über ein entzündetes Johannesfeuer (Jaanituli) springt, erhält Glück für das nächste Jahr. Je öfter man springt, desto besser. Die Art des Sprunges gibt Auskunft über das nächste Jahr. Fällt man z.B. auf der anderen Seite des Feuers vornüber, so bedeutet dies Unheil. Ein hoher Sprung bringt Erfolg, ein weiter Sprung Gesundheit, usw. 
  3. Auf den Inseln und in Küstennähe werden alte, ausgediente Boote im Johannesfeuer verbrannt. Dies soll mit dem Alten abschließen und Glück für die neue Saison bringen. 
Beliebt ist auch das Kiiking in der Johannesnacht. Kiiking ist ein neuer Sport, der in den neunziger Jahren in Estland erfunden worden ist. Er baut darauf auf, dass in Estland das Schaukeln (estnisch Schaukel = "kiik") Tradition hat. In vielen Dörfern stehen überdimensionale Schaukeln, auf denen man mit mehreren Menschen stehen kann. Beim Kiiking wird man auf eine sehr hohe, steife Schaukel geschnallt und es wird damit ein Überschlag vollbracht. Der Kiiking-Weltrekord liegt bei ca. 8 Metern. Den Wikipediaeintrag gibt es HIER, ein Video HIER.

Wanderung nach Taevaskoja
An die längste Nacht schließt sich der eigentliche Johannestag an, der in vielen Ländern, darunter in Finnland und dem gesamten Baltikum, gefeiert wird. Auch hier wird wieder gegessen, gesungen und getanzt - begleitet vom Johannesfeuer.

In Maarja Küla haben wird aufgrund des Faktes, dass unsere Bewohner an ihre Ruhezeiten gebunden sind, nur den Johannestag selbst (der im Übrigen staatlicher Feiertag ist) zusammen verbracht. Die Flagge wurde gehisst, das Johannesfeuer entzündet und es wurde reichlich gesungen und getanzt, sowie gegessen. Während eine Gruppe Essen vorbereitete, wanderte eine andere nach Taevaskoja. Ich hingegen hab mich ersteinmal hingelegt. :)
Ein sehr schönes Fest.

Die vorherige Nacht hatte ich mit Anna an der Bootsbrücke verbracht. Wir haben dort an der Feuerstelle ein eher spärliches Feuer entzündet und konnten beobachten, wie in der Dämmerung die Sonne ihren Rückzug antrat. Mehrmals bin ich über das Feuer gesprungen - jetzt gibt es Glück für das nächste Jahr.
Tanzspiel in der Großgruppe beim Dorffest

Letzte Woche nun, stand eine große Veranstaltung an, die das ganze Dorf umfasste. Lange geplant, begaben wir uns am Dienstag in den lang ersehnten Dorfurlaub, in dem wir in einer 63 Menschen großen Gruppe in Richtung Tallinn fuhren.
Am Montag wurden letzte Vorkehrungen getroffen:
Es wurden Bewohner auf die drei Busse verteilt (zwei Kleinbusse und ein Reisebus), wir waren ein letztes Mal einkaufen, es wurden Sachen für Bewohner und Arbeiter verpackt, Küchenutensilien wurden verstaut, Zelte und Matratzen geprüft und auch verpackt. Schließlich gab es noch eine letzte Sauna und aufgeregt ging es zu Bett. Der Dienstag begann mit dem großen Entspurt: Alles wurde fertigverstaut. Dann ging es auf in die Busse und ab in den Norden. Zusammen mit zwei Bewohnern, drei Arbeitern und dem Essen für das gesamte Dorf, reiste ich im weißen Bus des Sõbra Maja, denn ich war wieder mit meinem "Schätzeken", meinem Jungen im Rollstuhl, beieinander. Während wir über die schöne estnische Landschaft donnerten, klang Retromusik aus den Lautsprechern. Wir tanzten auf der Mittelreihe und kamen dem Horizont näher.
Blick auf den hinteren Teil des Zeltplatzes
In Türi, etwa in der Mitte Estlands, gab es den ersten Stopp an einem See, wo der erste "Toimkond", also die Gruppe, die für das Essen verantwortlich ist, eine dreiviertel Stunde lang nur Brote schmierte und Getränke in Tassen eingoss - Akkordarbeit pur.
Weiterer Halt war noch in einer Burgruine in Nordestland bis wir dann gegen sechs Uhr abends das "Haraka Kodu", ein Pflegeheim für geistig behinderte Menschen, erreichten. Im Garten schlugen wir die knapp dreißig Zelte auf und im Haus bezogen beispielsweise die Rollstuhlfahrer ihre Zimmer.
Mittwoch brachen wir gegen 10 Uhr auf und zogen nach Tallinn, wo wir zunächst den "Lennusadam" besuchten, Europas bestes Museum 2012. Der "Flugzeughafen", wie er übersetzt heißt, ist ein ehemaliger Hangar am Hafen von Tallinn. Ehemals lagen dort sowjetische Schiffe und Wasserflugzeuge an. Heute kann man dort ein U-Boot der estnischen Flotte (wahrscheinlich das einzige Bestandteil der Flotte) betrachten, sowie diverse Boote, Schlittenboote, ein Wasserflugzeug und diverse andere Exponate.
Ich, Maria (Estin) und Heli (Tschechin)
im Lennusadam
Eigentlich interessiert mich ein solches Klientel ja weniger, aber dieses Museum gefiel mir dann doch sehr. So konnte man beispielsweise auch kostenfrei Fotos mit Kapitänskleidung machen und diese an seine E-Mail-Adresse schicken lassen. Ebenso war es aber auch möglich Flugzeugsimulatoren zu fliegen oder kleine ferngesteuerte Boote zu fahren. Nebenbei gab es aber auch viele interessante Texte und Schilder für die "Älteren". Das Museum hat meine Erwartungen deutlich übertroffen. Nach einem Picknickabstecher in Kadriorg (Katharinenthal), einem parkreichen Teil von Tallinn mit dem Fürstenschloss, zog es uns hoch hoch hinaus - auf den Tallinner Fernsehturm, der zwar zu den olympischen Spielen in den 70er Jahren durch die Sowjetunion gebaut wurde, als Tallinn die Segelwettbewerbe austrug, heute jedoch ein Symbol der estnischen Freiheitsbewegung geworden ist. Vom Turm erwartete uns nicht nur ein spannender Ausblick über Tallinn, den finnischen Meerbusen und das estnische Umland, sondern mit viel Phantasie konnte man auch schon Finnland in ca. 80 km Entfernung erahnen. Im Turm selbst gab es noch eine interessante Ausstellung zu diversen Themen. Beispielsweise konnte man das Umland in einer Nachstellung sehen, wie es vor hunderten Jahren ausgesehen haben muss - oder wie es bei verschiedenen Jahreszeiten aussieht.
Blick vom "Tallinna Teletorn"
Am Abend im Haraka Kodu gab es dann noch eine Disco für die Bewohner, die zusammen mit den Bewohnern der dortigen Einrichtung stattfand. Sehr gelungen.
Nach der abendlichen Runde ging es dann auch für mich ins Bett.
Am Donnerstag ging es dann früh zurück zum Tallinner Hafen, wo wir diesesmal auf ein Schiff stiegen - die "Kajsamoor", ein nach dem altnordischen Windgott benanntes Segelschiff. Nachdem wir unsere drei Rollstuhlfahrer über die Reeling gehieft haben und auch alle anderen Bewohner und Arbeiter ihren Weg auf das Schiff überstanden haben, ging die Fahrt los auf die wellige Ostsee, vonwoaus wir einen schönen Ausblick auf das Tallinner Hafenbecken hatten. Dazu gab es einige Erzählungen darüber, wie solch ein Schiff funktioniert und wie es um die Seefahrt in dieser Gegend bestellt ist.
Blick vom Boot - hinter mir Tallinn
 Als wir wieder Land unter den Füßen hatten ging es wieder auf zum Picknick - diesmal in den Stadtteil Mustamäe in einen Park. Auf dem Weg dorthin gab es einen sehr epischen Moment, denn neben mir auf dem Bussitz mitten in Mustamäe fing Kalju* (der im Übrigen aus Tallinn kommt) an heftig zu "rufen". Auf die Frage, was denn los sei, zeigte er das Gebärdensprachezeichen für "zu Hause". Als wir seine Mutter, die am Abend zu Besuch kam, darauf ansprachen, stimmte sie zu, dass sie in Mustamäe wohnen. Kalju hat also sein Heim wiedererkannt. Ein sehr schöner Moment.
Nach dem Picknick ging es in den Tallinner Zoo, den einzigen Zoo Estlands, der gelinde gesagt überschaubar ist. In einer Führung gingen wir ein wenig durch den Zoo und erhielten zeitgleich Informationen. Auch wenn man dem Zoo seine Sowjetvergangenheit ansieht, erblickt man auch, dass sich viel verändert hat. Ein sehr niedlicher Zoo, der logischerweise nicht mit Zoos in Deutschland wie denen in Berlin, Leipzig oder Hamburg zu vergleichen ist, jedoch trotzdem einen gewissen Charm ausstrahlt.
Freitag ging es für uns ans Meer, wo wir lange Zeit verbrachten. Auch wenn unsere Stelle Strand in Schlamm getränkt war, so war es dennoch sehr schön und auch die Sonne kam sogar einmal heraus. Der Schlamm hörte nach zwei Metern im Meer auf - eine annehmbare Tiefe hatte das Wasser aber erst nach zweihundert Metern. Bis zu hundert Metern im Meer hatte dieses noch Knietiefe. Dort war das Wasser klar und der Sandboden weich. Die Dünen hinter uns waren sandig und dicht mit Küstengras bewachsen. Wir zogen dicht ans Wasser, schwammen, spielten Ball oder Karten und sonnten uns. Tatsächlich - ich bin braun geworden - in Estland! :)
Nachmittag am Kloogirand
Nach einem weiteren Picknick mit Kaffee, Saft, Keksen, Möhren, selbstgemachten Burgern und Äpfeln zogen wir die Küste entlang am nahe gelegenen Paldiski vorbei, wo wir am Nordzipfel einer Küste vor dem Leuchtturm die Klippen bewunderten. Die hohen Wellen schlugen unter uns an den Fels an, während wir oben auf den reichen Blumenwiesen die Möwen über uns hinwegziehen sahen. Der Leuchtturm hinter uns ragte unbetrübt hoch in den Himmel.
Nach einem weiteren Einkauf in Paldiski, einer russisch geprägten Stadt, ging es zurück ins Haraka Kodu, wo wir den Abend bei Gesängen und Tänzen verbrachten.
Am Samstag mussten wir dann leider schon wieder die Segel streichen. Mit dem Packen und Zeltverstauen ging alles los, doch als dann alles in den Bussen verstaut und das Abschiedsfoto geschossen war, bretterten wir los. Im nahegelegenen Pahkla-CampHill-Dorf, in dem ich auch schon einmal war, legten wir einen Besuchszwischenstop ein. Ein wenig später ging es nocheinmal in ein Wanderergasthaus, in dem wir die Mittagspause einlegten.
Beim Warten auf das Essen :)
Am frühen Abend oder späteren Nachmittag (wie man das auch auslegen möchte) erreichten wir Maarja Küla, entpackten die Busse, gingen nocheinmal für das Wochenende einkaufen und dann gab es in meinem Haus ein verrücktes Abendessen: Als Hauptgang: Eis. Dazu Früchte und Kekse. Ein Traum. Der ganze Kram wurde nur in die Ecke gepackt. Entpackt wurde erst einen Tag später. Dieser Tag war noch Urlaub. Himmlisch.

Ein wunderbarer Urlaub. Am Besten hat mir ... so ziemlich alles gefallen. Klar, gab es auch Streit und Rangeleien und einiges war sehr unorganisiert, aber nichtsdestotrotz gefiel mir die Reise sehr. Schade, dass sie dann schon vorbei war.
Ein Hoch auf Maarja Küla und ein DANKE an alle.

Bilder für euch, die gibt es zahlreich HIER.
Da sie von fast zehn verschiedenen Kameras stammen, sind sie nicht sortiert. Klickt euch durch!

Head aega,
Marcel

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