Mittwoch, 31. Juli 2013

Maailm muutub ... / Die Welt verändert sich...

Erneut sind einige Wochen ins Land gegangen und es ist viel geschehen.



1. Hitchhiking-Trip nach Narva, Kunda, Gästetag
Zuersteinmal sollte ich damit anfangen, dass ich mich vor drei Wochenenden an einem Donnerstagabend mit Anna nach der Arbeit nach Tartu aufmachte, wo wir mit dem Linienbus an den Stadtrand fuhren. Von dort aus trampten wir in einer langen Tour den Peipsisee hinauf. Zuerst schleppend ein paar Kilometer nördlich, wo wir für 3 Euro (unser einziges Bargeld) den typischen Peipsi-Räucherfisch kauften.

Der Fairness halber muss man sagen, dass die Autos
nur bei Anna angehalten hatten :)
"Was ist denn ihr günstigster Fisch?" - "Wieviel bekommt man denn für drei Euro?"

Gestärkt ging es schleppend weiter und wir wurden ein paar mehr Kilometer aufwärts mitgenommen, von wo wir jedoch knapp zweieinhalb Stunden nordwärts wanderten, da einfach kein Auto anhalten wollte. Innerlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass wir wohl irgendwo im Feld übernachten müssten, doch dann bestiegen wir doch noch ein Auto, dass uns gleich mit bis ans Nordufer mitnahm, von wo wir relativ schnell mithilfe eines weißrussischen Lasters bis direkt an unser Ziel kamen: Narva, denn dort war Anna noch nicht gewesen.
Anna saß auf dem Fahrerbett hinter den Kabinen, ich auf dem Beifahrersitz. So brausten wir in Richtung Sonnenuntergang und schließlich nach Narva, wo wir von einer Tankstelle direkt mit dem Taxi zu Katja, meiner bulgarischen Mitfreiwilligen, fuhren. Einen Tag später durchstriffen wir Narva, eine andere Welt, wann man Estland gewohnt ist. So kommt man bei ca. 90% russischer Bevölkerung mit der Landessprache nicht weit und viele handgeschriebene Tafeln bei zum Beispiel Obstständen sind ebenso auf russisch geschrieben. So bestiegen wir auch die Hermannsfestung und hatten sowohl im Schloss als auch auf der hohen Wehranlage grandiose Ausblicke.
Von dort aus sahen wir auch einen bestimmten LuxExpress-Bus auf der russischen Seite der Grenze, der uns nur etwa eine Stunde später Bettina beschert hat. Gemeinsam mit ihr und Katja verbrachten wir noch weitere Zeit in Narva, mussten jedoch am nächsten Morgen schon früh aufstehen, da wir mit einem Bus um 7 Uhr Richtung Kunda aufbrochen. Dort wollte Anna das estnische Kiiking ausprobieren - eine Sportart, in der es gilt, mit einer überdimensionalen Schaukel Überschläge zu machen. Allerdings begann dieses Kiiking erst dann, als wir gerade aufbrechen mussten. Frühes Aufstehen, lange Anreise mit Gepäck und Eintrittsgeld für die Katz. Aber was macht man nicht alles. Immerhin hatten wir eine nette kurze Zeit am Strand.

Am Abend ging es dann zurück nach Maarja Küla, wo der Gästetag stattfand - eine Veranstaltung für mehrere Orte aus der umgebenden Ortschaft, beispielsweise für Maarja Küla und das nahegelegene Kiidjärve. Dazu kamen noch Vertreter aus Valgemetsa und Lootvina. Gemeinsam gab es Musik, Tanz und Spiele - darunter ein Volleyballturnier, in dem auch ich mitgespielt habe.



2. Arbeitswochen im Haus
Die nächsten zwei Wochen begleitete mich Bettina auf meine Arbeit, die ich ihr stolz zeigen konnte. So machten wir gemeinsam für das Haus essen, gingen zur Malstunde, arbeiteten im Garten oder gingen einfach nur mit den Bewohnern spazieren. Mit meinem eigenen Projekt, eine Bank für die Bushaltestelle zu bauen, kamen wir auch zügig voran. Bald ist Richtfest.
Ein weiteres Projekt wurde leider schon vernichtet. Des Nachts hat jemand unverfroren meine Bushaltestellenmülleimer geklaut. Äußerst dreist und ärgerlich, doch den Esten nach zumindest sogar Wert, in die Lokalzeitung zu kommen. So durfte ich zustimmen und ein Foto einsenden, dass die Geschichte vom gestohlenen Eimer in die Gemeindezeitung gelangt.



Es waren zwei sehr schöne Arbeitswochen und ich finde es bewundernswert, wie gut sich Bettina in die Gemeinschaft eingelebt hat. Schon bald spielte sie mit Bewohnern und fand sich zurecht, ohne überhaupt Estnisch zu können. Dazu hat sie in den zwei Wochen viele estnische Wörter gelernt, sowie ein paar Sätzchen. Darunter ganz bedeutend: "Mul on puuk!" - "Ich habe eine Zecke!" :)
Wir wagten uns in diesen Wochen auch in den Wald - nicht nur zum Pilz-/Beerensammeln sondern auch zum Wandern. :)

3. Zeltunglück am Peipsi-See

Bettinas zweites Wochenende in Estland wollten wir gekonnt nutzen, indem wir an den Peipus-See an der Grenze zu Russland reisen wollten, um dort zu zelten. Es war ein sehr merkwürdiger Urlaub, doch er brachte uns viel zu erzählen.
Zunächst brachen wir Donnerstagabend mit dem Abendbus nach Tartu auf, wo wir nach einem Stop im Supermarkt bei Regen an den Stadtrand fahren wollten, um zu treffen. Nachdem wir ersteinmal einen Kreis durch die Stadt fuhren, hatten wir es dann irgendwann endlich geschafft und waren an der Stadtgrenze kurz vor 23 Uhr angekommen. Von dort aus setzen wir uns in Bewegung. Anhand des Automangels jedoch gestaltete sich das Trampen als schwierig. Erst kurz vor Mitternacht - und circa 5 Kilometer vom Ausgangspunkt - nahm uns ein Auto auf, dass uns gleich bis Mustvee an den Peipsisee mitnahm. Auf der Vorderbank saß ein russischsprachiges Päärchen, dass uns so einige merkwürdige Geschichte erzählte. Sie unterhielten sich mit mir auf Estnisch und Bettina auf Russisch - wie praktisch. Als wir gegen halb zwei in Mustvee aufschlugen, ließen sie uns an einem Zeltplatz direkt am See heraus, wo wir in der Dunkelheit vor Schreck feststellen mussten, dass unser Zelt nicht komplett ausgestattet war. Das Zelt war enthalten. Ebenso die Schutzplane und die Heringe und Schnüre. Auf die Stangen hatte man jedoch beim Zusammenpacken verzichtet.
Unser Wrack am Morgen danach
Damit hatten wir eine große Tasche, aber nichts Stabilisierendes, was daraus ein Zelt machen würde. Anhand
des Mangels an Möglichkeiten zogen wir mit einer Schnur das Zelt mit der Spitze an einem Baum hoch, so dass es einigermaßen eine Form hatte. Dadurch konnte die Regenplane jedoch nur notdürftig herumgesetzt werden, was bis sechs Uhr morgens kein Problem hätte sein sollen, als dann plötzlich der Regen einsetzte, der aus unserem Zelt einen Indoorpool machte, denn mein Handy nicht überlebt hat. Als am nächsten Morgen alles trockengesetzt wurde setzten wir uns in Bewegung Richtung Süden. So trafen wir ersteinmal noch in Mustvee den "Kalev-Helden-Stein", einen großen Stein im Nichts mit angeblich heroischer Bedeutung. Weiter ging es noch mit dem Bus nach Süden zurück Richtung Kallaste, wo sich uns schöne Sandsteinklippen, ein niedlicher kleiner Strand und süße Fischerhäuser boten.



Weiter wollten wir dann zu den Dörfern der Altgläubigen - einer russischen Volksgruppe, die sich vor circa zweihundert Jahren dort niedergelassen hat, um der religiösen Verfolgung in Russland zu entgehen. Sie leben auf ihre altertümliche Art in kleinen Hütten und bauen lange Reihen von Gemüse und Zwiebeln an, was ihnen in Estland ihren Spottnamen "Zwiebelrussen" einbringt. Es handelt sich um ein sehr religiöses Volk und so sind auch in kleinen Orten mindestens zwei Kirchen samt Friedhöfen zu finden.
Die Hauptstraße von Nina
Wir setzten unsere Tramping-Fahrt über Alatskivi bis nach Nina weiter - ein ZU kleines Dorf am See. Zunächst mussten wir uns von einem ansässigen Russen, der jedoch mit mir auf Estnisch sprach, in eine Pension schleppen lassen - anscheinend wollte man uns nicht zelten lassen. Wir lehnten ab, durften uns jedoch noch seine Kriegswunden ansehen, die er sich beim Einmarsch der Sojwetunion in Afghanistan in den 70er Jahren verdient hatte. Er versicherte uns auch noch, dass Nina der schönste Ort am Peipus sei - wenn es nach ihm ginge. Wir mochten zwar den Anblick der kleinen Häuschen, wo alte russische Großmütter ihre Zwiebeln gossen oder wo Menschen fangfrischen Fisch umfüllten, jedoch brachten wir es lange nicht fertig, auf die nächstgelegene Straße Richtung Kolkja zu gelangen - den nächstsüdlicheren Ort.
Wir landeten in allen Ecken von Nina in Privatgrundstücken. Als wir es dann doch fertig brachten, streiften wir zwischen Feldern über eine elendig lange Feldstraße. Der Anblick erinnerte an Bilder aus der Ukraine oder Rumänien - kleine kaputte Häuser an einer nicht asphaltierten Straße mit älteren Menschen mit Hunden und langen Gemüsebeeten. Jedenfalls hatte ich so etwas noch nicht in Estland gesehen. So wanderten wir und wanderten - wateten durch kratzendes Gras und wurden von Bremsen zerstochen. Nach langen Kilometern trafen wir mit einer anderen Straße zusammen und hatten endlich wieder Asphalt. Als wir das Zelt, um das Gepäck zu schützen, bei einem Regen an einem See aufstellten, lief jenes wieder voll. So entschieden wir uns aufgrund einer unzumutbaren Situation - alles nass, keine Aussicht auf Besserung, nächste Ortschaft in weiter Entfernung - umzukehren und noch an diesem Abend nach Tartu zurück zu trampen, was uns mit zwei Autos gelang - wobei mir wieder tausendmal verischert wurde wie gut ich doch schon Estnisch spräche - mit einem kleinen Wink mit dem Zaunspfahl zu all den "Russen"; die schon seit Ewigkeiten hier wohnen und keinen Brocken Estnisch sprechen. Unsere zweite Autofahrerin war auch sehr aufgeregt, denn wir waren ihre ersten Tramper überhaupt - und so plauschten wir über Sprachen und die Restauration älterer Häuser (was sie beruflich macht).



Wir schafften es so endlich tatsächlich noch bis zehn nach Tartu und konnten so mit dem Bus ins Dorf, wo wir ersteinmal eine heiße Dusche und ein weiches, trockenes Bett genossen.
Am nächsten Tag machten wir dann lieber mit Elisabeth einen Fahrradausflug nach Põlva, auf dem ich mir derbe Poschmerzen zuzog. Aber was soll's!? :)
Alles in allem war es eine sehr angenehme Erfahrung, wenn auch so einiges schief lief. Ich bin froh, dass ich diesen Ausflug mit Bettina gemacht habe, auch wenn er schon in 24 Stunden wieder vorbei war. Dafür haben wir sooo viele Geschichten zu erzählen und soo viele neuer Erfahrungen gemacht. Danke dabei einmal an Bettina an dieser Stelle, die mir die ganze Zeit so gut zugeredet hat und dann Mut machte, wenn meine Stimmung am Boden war.
Am nächsten Abend gab es dann ein kleines Saunafestchen mit Gianluca, einem italienischen Freund, der in Tallinn arbeitet, sowie mit Elisabeth und Anna. So gab es Sauna, vieles gutes Essen mit selbstgesammelten Waldbeeren und Pilzen aus dem Wald, sowie frischen Dingen aus dem Garten. Außerdem gab es auch noch einen Sprung ins kühle Nass - entweder ins Fass oder in den Teich. Sehr schön. Ein super Ende für ein chaotisches Wochenende.

4. Viljandi Folk
Eine türkische Gruppe auf dem Festival
Am darauffolgenden Donnerstagen ging es früh los raus aus dem Dorf. So fuhren wir - Bettina, Anna, Maria und ihr Freund Hannes und ich - nach Tartu, um dort einzukaufen, und im Anschluss nach Viljandi, wo wir das Viljandi Folk Festival besuchten. Dorthin kamen dann auch später noch Elisabeth, Heli, Huko und Lisa - eine Freiwillige aus Räpina in Estland. Wir verbrachten ein paar schöne Festivaltage mit Zelten, Schwimmen und diversen Konzertbesuchen. Von estnischer Folklore über indische Punjabi-Musik und alaskanische Gesänge bis zu Folkrock war alles dabei. Bis abends hinein gingen die Konzerte. Abgesehen von einem Diebstahl gab es auch wenig negative Punkte zu berichten. Mehr Bilder vom Festival gibt es auf der offiziellen Seite HIER.

Ein Video - zwar nicht vom Festival, aber von einer Band vom Festival - gibt es hier jetzt. Dieses Lied hat mich sehr begeistert - das ganze Konzert war grandios. Bei diesem Lied waren auf der Bühne auf dem Festival auch noch ein Slagline-Tänzer und circa 10 Folkloretänzer in Trachten. Die Menge hat gejohlt vor Freude.





Das Festival findet auf einem Gelände mitten in der Altstadt statt. Die Bühnen sind so beispielsweise in einer Kirche, im Museuminnenhof und zwischen alten Klosterruinen. Einen Einblick über die schöne Aussicht und die grandiosen Konzerte gibt es auf der genannten Seite mit den Fotos.
Einen Festivaltag ließen Huko, Bettina, Anna und ich jedoch sausen, denn wir setzten uns ins Auto und machten uns ab über die Grenze Richtung Riga, um Alina vom Flughafen abzuholen. Alina ist eine unserer neuen Freiwilligen, die ihren Dienst jetzt beginnt. Sie kommt aus Freiburg und wird ihren Dienst jetzt im Sõbra Maja und im Eesti Maja verbringen. Morgen kommt dann auch Tamar an - unsere neue Freiwillige aus Georgien, die dann das Eesti und das Saksa Maja bereichern wird.



Mit der frisch angekommenen Alina (rechts)
am Flughafen in Lettland
Auf dem Weg zum Flughafen fuhr zunächst Anna Hukos Auto, später in Lettland auch ich - und wär in Lettland einmal Auto fahren wird, für den wird eben dies ein Adrenalinrausch. In Lettland fahren Autos prinzipiell am rechten Fahrbahnrand, beinahe auf dem Seitenstreifen, damit in der Mitte genügend Platz für Überholer aus beiden Richtungen ist. So existieren quasi drei Spuren anstatt zwei. Huko instruierte meine Überholmanöver und mir schoss Adrenalin in die Blutbahn. Eine sehr spannende Erfahrung. In Riga selbst fuhr dann Huko den Wagen zum Flughagen, wo wir Alina nach einer Verspätung ihres Fliegers begrüßten. Sie bekam gleich estnische Köstlichkeiten in die Hand gedrückt und so machten wir uns wieder auf den Weg durch Nebelschwaden zum Viljandi Folk, wo wir gegen zwei Uhr morgens ankamen. Dies war sehr spannend, da es für mich die erste Neuankunft eines Freiwilligen war, so war ich ja das "Küken" im Dorf.

5. Annas Abschied
Heute morgen fiel der Regen in dicken Tropfen auf das Dorf - traditionell, wie es hier heißt, denn Anna musste das Dorf verlassen und immer dann, wenn jemand geht, regnet es wohl meißt.
Anna hatte ihre letzten Tage mit einer Dorfabschiedsfeier mit Bewohnern verbracht, wo ihr Abschiedsgeschenke übergeben und Tränen vergossen wurden. Auch die Saunafeier gestern Abend hatte Abschiedscharakter, auch wenn zum ersten Mal seit der Reparatur die "Tünnisaun" (Fasssauna) angeheizt wurde. Diese darf man sich wie eine übergröße Outdoor-Badewanne vorstellen. Heute morgen ging es dann früh aus den Federn zu einem letzten gemeinsamen Frühstück und als kleine Gruppe brachten wir Anna zur Haltestelle, als der Regen einsetzte. Da war sie auch schon weg - auf ihren Weg nach Tallinn und dann zurück nach Deutschland. Ein merkwürdiges Gefühl. Obwohl mir noch Zeit bleibt, so fühlt es sich dennoch nach Ende an, denn wir haben einfach eine lange, schöne Zeit in Maarja Küla gehabt. So ist das im Leben: einer kommt, einer geht. Alles ändert sich.

An dieser Stelle ein großes DANKE an L. Anna S. M. Baumann für das letzte halbe Jahr in Maarja Küla, jeden Mist, den wir mit Elisabeth gemacht haben, jedes Mal Kochen in der Hausküche, jeden Faulenznachmittag, jeden Sprung in den Fluss, jeden Lacher, sowie alles erdenkliche Glück und den größten Erfolg für deine weitere Zukunft in Deutschland. Man sieht sich wieder. In Estland und in Deutschland. Verlass dich drauf :)



Head aega,
Marcel

P.S. Wir hatten amerikanische Soldaten im Dorf, die hier viel repariert und gebaut haben im Rahmen eines Kulturprogramms der US-Army. Bilder davon gibt es irgendwann beim nächsten Eintrag.

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