Montag, 30. Dezember 2013

Weihnachten und "Vaba Tahe"

Hallo und liebste Weihnachtsgrüße aus dem hohen Norden, wo trotz aller Vorstellungen immernoch kein Schnee liegt.

Die Feiertage habe ich ruhig im Dorf verbracht, wo es wie angekündigt das traditionelle Weihanchtsessen aus Kartoffeln, Sauerkraut, Blutwurst und Preiselbeermarmelade gab.
Zu erwähnen ist, dass am Heiligabend zwölf verschiedene Speisen auf dem Tisch zu stehen hatten und auch nach dem Essen der Tisch bis Mitternacht nicht abgedeckt werden durfte.
Am Heiligabend regnete es auch Geschenke und ich durfte einen estnischen Weihnachtspsalm vor dem Weihnachtsmann vortragen. Am ersten Feiertag gab es dann noch ein schönes langes Singkonzert mit traditioneller Weihnachtsmusik und heidnisch estnischen Wintersonnenwendsagen - und wieder Geschenke.
Schließlich auch noch am 27. Dezember gab es einmal Geschenke beim feierlichen letzten Arbeitertreffen des Jahres mit Kuchen, Kaffee und wieder einem Weihnachtsmann.

Morgen ist also schon der letzte Tag im Jahr und es geht auf das Jahr 2014 zu, das wieder viel Neues bringt. Am zweiten Januar fahre ich nach Riga, von wo ich mit Bettina einen Kurzurlaub in Riga, Vilnius und Tallinn starte.

Anna ist auch kurz wiedergekommen und so konnten wir uns gestern gemeinsam bei einer gut gefüllten Fernsehschaft im Sõbra Maja unsere Folge in der Dokumentalserie "Vaba Tahe" ansehen.
Im Mai war eine Fernsehcrew nach Maarja Küla gekommen, um für eine Dokumentalreihe über Freiwilligenarbeit eine Folge zu drehen. In 8 Episoden wurde von Esten berichtet, die im Inland und Ausland freiwillig unterwegs waren, doch nun war es in Episode Nummer 9 Zeit, von Anna, Philipp und mir zu berichten und so flimmerten wir gestern Abend über den Schirm bei Eest Televisioon, dem staatlichen estnischen Fernsehen.

Einen Link zur Onlineversion gibt es HIER.
Der Trailer ist HIER.
Einen Ausschnitt gibt es HIER.


Ich verspreche hiermit, eine Untertitelversion nachzuliefern.

Soweit so gut.
Damit wünsche ich euch einen wunderbaren Jahreswechsel.
Weil mir gerade hier alles etwas zu viel wird, muss ich mit neuen Blogeinträgen ersteinmal eine Weile vertrösten. Aufgeschoben soll aber auch nicht aufgehoben sein.

Head aega ja head aasta vana lõppu!
Marcel

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Jõuludeajal 2.0

In der Weihnachtsbäckerei ... gibt es viel Piparkook (Pfefferkuchen), der in Estland das einzig richtig traditionelle Weihnachtsgebäck darstellt - abgesehen von den Massen an importiertem Süßkram aus dem Ausland versteht sich.
Die Weihnachtszeit geht voran und schon steht der vierte Advent mit dem Weihnachtsfest vor der Tür.
Während Mirjam und Alina nach Hause fahren, werden Markus und ich im Dorf bleiben und die Feiertage hier in Estland verbringen.

Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Mir wurde ein Zahn gezogen, ein anderer in einer Wurzelbehandlung gefixt, mir wurde über den Fuß gefahren, ich habe neue Klamotten und der ganze Schnee ist schon wieder weg.

Doch am interessantesten wäre es wohl, vom letzten Wochenende zu erzählen:
Markus hat zu seinem Geburtstag ein Fährticket nach Helsinki von uns geschenkt bekommen und so fuhren wir am Freitagabend nach Tallinn, von woaus wir Samstag früh am Morgen mit der Fähre über den finnischen Meerbusen aufbrachen. Nach einem schönen Sonnenaufgang erreichten wir Helsinki bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel.


Es folgte ein langer Tag, von dessen Einzelheiten zu schreiben jetzt zu viel wäre, schließlich war ich ja bereits zweimal in Helsinki und habe davon berichtet.
Es bleibt jedoch zu sagen, dass es eine wunderbare Reise für mich gewesen ist und ich auch viele neue Ecken kennen gelernt habe, so zum Beispiel die Temppeliaukio-Kirche.


Diese Kirche wurde direkt in einen Felsen gehauen, auf den eine Kuppel gebaut wurde.
Die Kirche besitzt somit Felsenwände und dadurch eine ausgezeichnete Akkustik.
Interessant war auch zum Beispiel das Sibelius-Denkmal, dass dem finnischen Komponisten und Nationalhelden Jean Sibelius gewidmet ist.



Unser Ursprungsplan, den Weihnachtsmarkt zu besichtigen, ist etwas daneben gegangen, denn wir kamen gut 10 Minuten nach Hüttenschluss (um 18 UHR!) an. Mit so einem frühen Ende hatten wir nicht gerechnet, zumal es ein Samstag war.
Doch den zauberlichen Glanz der Weihnachtsbeleuchtung und - dekoration nahmen wir jedoch trotzdem war.



Am Ende des Abends ging es müde nach Tallinn zurück.
Auf dem Außendeck hatte ich gegen Mitte der Fahrt ein sehr schönes Erlebnis. An der richtigen Stelle stehend konnte ich sowohl Tallinn vorne, als auch Helsinki hinter mir erblicken, wenn ich meinen Kopf wendete. Die Lichter der Hauptstädte schienen durch die klare Nachluft.
Am nächsten Morgen war Tallinn in einen weißen Teppich gehüllt, der innerhalb von 5 Stunden gefallen sein musste (um 5 kamen Markus und ich schneelos an, um 10 wachten wir mit jede Menge weißen Puders auf)
Auf dem viel schöneren, romantischen Weihnachtsmarkt in den Gassen von Tallinn tranken wir alle noch einen Glögi (Glühwein) und schauten uns die Buden an, die schon eher an Weihnachtsmarkt erinnerten.


Die nächsten Tage gehen also nun auf Weihnachten zu. Die Schüler vom Schulprojekt hatten heute ihr Weihnachtsfest, die Bewohner vom Dorf fahren morgen zu Scharen nach Hause. Die Übriggebliebenen werden zusammen nächste Woche die Festtage verbringen.

Das bedeutet:

Adventslieder, besinnliche Tage und Blutwurst mit Sauerkraut.

Kuni selleni,
Marcel

Montag, 9. Dezember 2013

Jõuludeajal 1.0

Da ist er doch gekommen ... der Schnee, der liegen bleibt.
So sitze ich gerade in einem Pfannkuchencafé in Tartu (besser gesagt meinem STAMMpfannkuchencafé in Tartu), draußen frieren die Menschen bei soliden -7 Grad und an der Wand wärmt sich meine Jacke samt neuem Schal, neuen Fäustlingen und neuer Schapka, die ich mir gegönnt habe.

Hier Bildmaterial von der vorangerückten Weihnachtszeit in Estland.

 Tartu ist weihnachtlich geschmückt worden. Ein riesengroßer Weihnachtbaum trohnt auf dem Rathausplatz, die Straßen und Gassen sind mit Ketten, Lichterbällen und Kronleuchtern (!) geschmückt und Sehenswürdigkeiten und Einkaufszentren blinken und blitzen im Lichtermeer. Die Restaurants bieten jetzt auch Glühwein und Kakao mit Schuss an, sowie den typischen "Piparkook" (Pfefferkuchen) und Zimtleckereien. In den Einkaufszentren treten die Menschen sich die Füße ein und es liegt inzwischen (nach Entstehen dieses Fotos) hat es sogar noch viel geschneit.
Tartu - ein Wintermärchen.




 

 Samstag haben Mirjam, Markus und ich den Tag im Kulturzentrum von Põlva verbracht, wo die eintägige "Weihnachtsmesse" stattgefunden hat. Dort haben wir circa 6 Stunden lang im Hauptsaal an einem von vielen Ständen Produkte aus dem Dorf verkauft - kleine Püppchen aus dem Handarbeits-Workshop, Kerzenständer aus der Holzwerkstatt und Tonwaren verkauft. An anderen Ständen gab es ein reichhaltiges Angebot von Süßkram, selbstgebackenem Obstbrot und selbstgekochten Marmeladen bishin zu Seifen, Unterwäsche, Kosmetik und Elektrogeräten. Bei uns im Hauptsaal fand auch ein kleines Kulturprogramm mit Chören und Solisten statt, das uns unter Anderem "Laps peab sündima" geboten hat - in Estland ein Weihnachtslied, bei uns nur ein Schlager.
Hört mal in das oben positionierte Video rein - wer aufpasst, wird bald "Tränen lügen nicht" erkennen.

Unser Verkaufsstand in Põlva.
Kompetentes Verkaufspersonal mit tollen grünen Maarja-Küla-Shirts.
Immerhin 68 Euro haben wir eingenommen und uns wurde vom Põlva Kultuurikeskus sogar die Standmiete geschenkt.


 Zum ersten Advent zog erzgebirgische Adventsstimmung bei uns ein, denn nicht nur hatten wir drei Kränze gebastelt - einen für uns und zwei für je ein Haus (in Estland gibt es keien Adventskranztradition und umso stolzer bin ich, dass man sich für diese Idee gefreut hat).
Viel mehr hatten wir auch echt erzgebirgischen Stollen, den mir Bettinas Mama gebacken und Bettina zugeschickt hat. Ein Gaumenschmauss.
Danke!

In unser Zimmer hielt auch so langsam die Weihnachtsstimmung Einzug. Nicht nur habe ich meinen Adventskalender von Bettina (hinten - DANKE!) aufgehangen, sondern wir haben auch Sterne gebastelt, die außer in unserem Zimmer noch an unserer Tür und in einem Wohnhaus hängen - dies war unsere Beschäftigung für einen halbtägigen Stromausfall, der aber nicht ganz so schlimm war wie die letzten. Schließlich hatten wir dieses Mal Kaffee am Ofen der Außenküche gekocht ;-)

Ein weiterer Brauch, den ich in meinem Arbeitshaus ausprobiert habe, war der Nikolausbrauch. In Estland gibt es keinen Nikolaustag in diesem Sinne. Der "Nigulapäev" birgt hier keine großen Traditionen. Viel mehr darf sich das estnische Kind JEDEN Morgen an den Schuh oder an andere Stellen begeben, um zu schauen, ob die "Pekapikud" (Weihnachtswichtel) etwas gebracht haben. Am Abend des 5. Dezembers habe ich also Päckchen gebastelt mit derlei Süßem, die ich am Morgen des Nikolaustages zusammen mit einem kleinen Informationszettel verteilt habe.

Die Tradition kam sehr gut an und ich habe viele Dankeschöns geernet.
Am Schönsten war jedoch, einmal das Gefühl zu haben, wirklich etwas von seiner eigenen Kultur geteilt zu haben - vielleicht weil Weihnachten die erste große Möglichkeit dazu bot - schließlich ähneln sich die estnische und deutsche Kultur ohnehin sehr.
Seien es nun der Kranz, Basteleien, Lieder oder der Nikolaustag - Traditionen teilen ist schön.
Und ich freue mich daher bereits auf ein echt estnisches Weihnachten - trotz des Traditionsmenüs:
Blutwurst mit Kartoffeln, Sauerkraut und Preiselbeermus.
Juchey! :)



Head aega,
Marcel

P.S. Ich war beim "Vabaühenduste Suurpäev" - dem Großtag der Wohltätigkeitsorganisationen meines estnischen Landkreises. Dort habe ich nicht nur viele interessante Leute getroffen, sondern sogar vorne auf der Bühne ein Dankesschreiben und ein kleines Geschenk entgegennehmen dürfen für die Nominierung in der Kategorie "Freiwilliger des Jahres"
Der Preis ging zwar an einen anderen, aber dennoch bin ich sehr gerührt, wie viel Dankbarkeit mir entgegengebracht wurde und ich habe mich noch sehr lange mit der Arbeiterin unterhalten, die mich dorthin begleitet hat und mir ein Geschenk von Maarja Küla überreichte.

Ein großes Danke an dieser Stelle an Maarja Küla.
Ihr seid die Besten!

Dienstag, 26. November 2013

Tallinn, Tallinn, du bist so wunderschön!

Mitgezählt habe ich nicht, das wievielte Mal es nun gewesen ist, aber ich habe es wieder getan:
Ich war in Tallinn!



Letzte Woche hatte ich mein verspätetes MidTerm-Seminar in der Nähe von Tallinn und da ich eine Woche zuvor an einem Sonntag vorgearbeitet hatte, nahm ich mir den Freitag vor dem Seminar, das am Montag begann, frei, um ein verlängertes Wochenende in Tallinn vorzulagern - in einer Stadt, die ich zu lieben gelernt habe.

Wo soll ich also anfangen?

Vielleicht bei meiner neuen "Fähigkeit", Dinge liegen zu lassen, zu zerstören oder zu verlieren, denn bevor ich mich mit Krissi, bei der ich übernachtete, treffen konnte, hatte ich noch einige Stunden Zeit in Tallinn, die ich im Gildenhaus des "Eesti Ajaloo Muuseum" (estnischen Geschichtsmuseum) verbrachte, in der verschiedene Ausstellungen in einem alten Gildensaal der deutschbaltischen Hansagilder der "Schwarzhäupter" über die Geschichte der Esten berichten.
Kurzfassung der Geschichte der Esten:
Wie viel gute Laune ein wenig Sonne doch bringen kann!
Die Esten kamen vor tausenden Jahren aus dem Ural in Richtung des heutigen Estlands, wo sie sich bald als heidnisches Bauernvolk einrichten. Sie zelebrierten die Verbindung zur Natur und führten ein beschauliches Leben. Da das estnische Land samt Boden, Natur und Wirtschaftlichkeit ein sehr günstiger Standpunkt ist, besetzten im Laufe der Jahrhunderte Dänen, Polen, Schweden, Deutsche Kreuzritter, Russische Zaren, die Sojwetunion und das deutsche Reich Estland - dabei beinahe IMMER mit der Folge, dass die Esten die Leibeigenen in ihrem eigenen Land gewesen sind und keine faktischen Rechte besaßen. Religionen, Werte und Normen wurden dem Volk aufgedrängt, die eigene Kultur der Esten unterdrückt und viele Esten ermordet und geknechtet. Nach der sozialistischen russischen Revolution erhielten die Esten 1921 das erste Mal ihren eigenen Staat. Nach langer sozialistischer Besetzung ab den Zeiten des zweiten Weltkrieges im Folge des Molotov–Ribbentrop Paktes konnten sich die Esten 1991 freisingen und feiern ihre zweite Republik.

Soweit so gut. Nach dem Museumsbesuch fiel mir leider auf, dass mein Schließfachschlüssel nicht mehr an seinem angestammten Platz in meiner Jackentasche lag, sondern dass sich meine Finger an jener Stelle durch ein Loch schälen mussten. Nachdem ich noch einmal alle Plätze abgegangen war hob ich 50 Euro von meinem Konto ab (die Strafe für den Schlüsselverlust) und ging zum Infopunkt des Autobusbahnhofs.
An dieser Stelle ein großes DANKE an Kaire vom Infopunkt und Oleg vom Sicherheitsdienst, die mich nach einer Unterschrift samt Rucksack aus dem Fach gehen lassen haben. Auch wenn sie es nicht lesen werden: DANKE! AITÄH!


Es folgten jedoch ein paar schöne Tage in Tallinn, an denen ich die Zeit nutzte, auch an mir noch unbekannte Orte zu gehen, so wie etwa in das KUMU-Kunstmuseum (die estnische Nationalkunstgalerie), in das Zarenschloss in Kadriorg (zu deutsch Katharinenthal) oder zum Denkmal der im 19 Jahrhundert untergegangen Fähre Russalka.

Ein sehr angenehmer Höhepunkt war dabei der Kinobesuch im eleganten Kinosaal "Sõprus", einem richtig galanten Saal, wie man ihn sich aus den 50er Jahren vorstellt - ein Kronleuchter baumelt von der Decke und die Wände sind in edlen Farben gestaltet.

In Tallinn findet zurzeit das größte Filmfestival Nordeuropas, das sogenannte „PÖFF“, statt. PÖFF steht für „Pimedate ööde filmifestival“ oder zu Deutsch „Filmfestival der dunklen Nächte“. In dessen Rahmen richtet wiederum das estnische Goetheinstitut Tallinn erneut das Kleinfestival „Uus saksa film“ (Neuer deutscher Film) aus, in dem ausgewählte deutsche Produktionen gezeigt werden. Krissi und ich wollten uns also den ersten Film auf dem Programm „Finsterworld“ ansehen. Kurz vor Beginn der Vorstellung stürmten wir erfüllt von der Angst keine Tickets mehr zu bekommen in den Saal. „Habt ihr Tickets?“ fragte mich eine elegant aussehende Frau in einem roten Cocktailkleid. „Nein, wir wollten gerade welche kaufen!“, sagte ich. Darauf erwiderte sie: „Wisst ihr, heute ist so ein toller Tag. Wir schenken euch welche!“, drückte mir zwei Scheine in die Hand und verschwand. Gespannt gingen wir in den Festsaal und fanden uns inmitten von schick gekleideten Menschen wieder, die alle Weingläser in den Händen hielten. Mit meiner hellgrünen Regenjacke kam ich mir dezent fehl am Platz vor, aber dennoch begab ich mich samt Weinglas (kostenlosen Wein lehnt man ja nicht ab) auf meinen Platz und es folgte die „Eröffnungsgala“ für das deutsche Filmfestival samt Botschafter, Vorsitzenden des deutschen Goetheinstitutes, sowie dem Cutter des Filmes. Nach dem doch sehr surrealen Film folgte dann auch noch eine Diskussion. … und das alles für lau.
Einen weiteren Bericht vom Abend gibt es HIER.
Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch im Vorort Nõmme, der erst vor einer nicht allzu großen Zeit überhaupt zu Tallinn angegliedert wurde. Der Stadtteil war eine Planstadt eines Investoren, der Teile seines Landes verschenkte, um einen Ort entstehen zu lassen. Heute befinden sich in Nõmme viele Parks und ein sehr schöner Markt, der es wert ist, besucht zu werden. :)
Denkmal an den Gründervater von Nõmme

Blick in die Markthalle

Statue des Kalevipoeg, eines estnischen Nationahelden
Das Warnschild am
Übungsgelände

Am Montag jedoch brach ich zum Busbahnhof auf, nicht etwa um zurück ins Dorf zu gelangen, sondern ich steuerte auf einen Kleinbus mit dem Zeichen „Europa Noored“ (Jugend Europas) zu, der mich zu meinem Zwischenseminar bringen sollte. Der Bus war von der estnischen Freiwilligenagentur angemietet worden und nahm neben mir noch als Freiwillige drei Spanier, einen Türken und einen Italiener, sowie die zwei estnischen Trainer Margus und Kristi mit. Margus kannte ich bereits von meinem ersten Seminar in Estland. Da ich zu meinem ursprünglichen Zwischenseminar mit Mandelentzündung im Bett lag, kannte ich keinen von den mich umgebenden Freiwilligen. Alle waren älter als ich und schon gemeinsam auf dem Erstseminar gewesen. Das störte jedoch nicht und so erwarteten uns vier schöne Tage mitten in der Waldeinsamkeit von Leppoja. Leppoja ist ein Ferienhaus mitten in einem Naturschutzgebiet, in etwa 30 Minuten Autofahrt von der nächsten asphaltierten Straße entfernt. Auf der Hinfahrt durch den Wald fiel mir nicht nur die andere und doch so ähnliche Aussicht im Vergleich zu „meinem Wald“ in Maarja Küla auf, sondern auch die Pfosten, die teils neben der Straße in den Boden gesetzt waren und „militärisches Übungsgelände“ ankündigten. Zu Sowjetzeiten war das gesamte Gelände Luftwaffenübungsgebiet gewesen, heute ist der Teil, der dem Militär gehört, wesentlich kleiner.

Schließlich erreichten wir jedoch Leppoja und fanden uns im siebten Himmel vor. Gemütliche Blockhütten mit bequemer Einrichtung und urigen Holzöfen standen uns gegenüber. Bei den Mahlzeiten wurden wir vom Betreiberehepaar regelrecht gemästet. Es gab reichhaltige Mahlzeiten, selbstverständlich immer mit Kuchen oder selbstgemachter Torte zum Nachtisch, und sogar zu den Kaffeepausen reichhaltige Snacks. Jeden Abend wurde die Sauna aufgeheizt.

Eines der Häuser von Leppoja
Auf dem thematischen Programm standen Probleme und Situationen unserer Projekte, des Freiwilligendaseins und kulturelle Hürden. Wir führten auch sehr intensive Gesprächsrunden über andere Themen. So befassten wir uns mit Kulturschocks, dem Erfahrungsaustausch und vielen weiteren Dingen. Auch praktisch ging es ans Werk, so wanderten wir mehrmals in einem Wald, in dem auch Elch, Bär, Wolf und Luchs zu Hause sind (leider konnten wir jedoch niemanden davon erblicken) – an einem Abend von 5 bis 11 Uhr schafften wir es sogar an die 23 Kilometer zu laufen. An jenem Abend durchschritten wir im Dunkeln das Sumpfland der Umgebung, als wir an einer Feuerstelle ein Lagefeuer entfachen wollten. Beim Heruntertreten in die Senke hieß es alsbald „Dort ist noch Glut!“ und als wir gerade das vorbereitete Feuerholz aus dem Unterstand entnehmen wollten, fiel das Licht einer Stirnlampe auf ein kleines Zelt.
Der Zeltende entpuppte sich als Erik, ein junger IT-Unternehmer an Tallinn, der mit drei Freunden eine App-Firma gegründet hat und gerade nur auf Heimurlaub ist, nachdem er einen Monat auf Bali verbracht hat, wohin er seine Firma verfrachten möchte. Natürlich ist diese Waldbegegnung noch nicht beendet, schließlich fand sie in Estland statt, dem Land in dem jeder mit jedem über 30 Ecken bekannt oder sogar verwandt ist. Nun stellte sich nämlich heraus, dass dieser junge Mann, den wir halb neun am Abend in tiefster Dunkelheit mitten im nordestnischen Wald eines Naturschutzgebietes beim Wandern getroffen haben, ein Bekannter von Ly Mikheim (der Leiterin von Maarja Küla) ist.
Dies passiert in Estland öfter, denn hier sind alle Menschen vernetzt und irgendwie kennt man sich wie in einem großen Dorf mit eineinhalb Millionen Einwohnern.
Außenansicht der Rauchsauna vom Vordach aus.
Am letzten Abend des Seminars wartete die „Suitsusaun“ (Rauchsauna) auf uns, an der wir zu fünft teilnahmen. Die Situation ähnelte stark dem Beginn eines schlechten Witzes: „Ein Türke, ein Spanier, ein Este, ein Deutscher und ein Italiener sitzen in der Sauna …“
Doch was ist nun eine Rauchsauna? Rauchsaunen sind anders gebaut als normale Saunen. In Rauchsaunen befinden sich Feuerofen und Sitzbänke im gleichen Raum ohne Abzug. Das Feuer wird den Tag über angeheizt, sodass sich die Sauna aufheizt. Dabei zieht der Rauch durch die Sauna selbst, da ja kein Abzug vorhanden ist. Das führt dazu, dass der ganze Innenraum und auch der Außenraum um Tür und Luken herum eingeschwärzt sind.

Typisch für die Rauchsauna: Saunageister
Bekommt man Rußflecken, so heißt es,
hat einen der Saunageist berührt
 Direkt vor der Benutzung werden alle Türen und Luken geöffnet, sodass die Sauna vom Rauch selbst befreit wird, und die Glut wird aus dem Ofen entnommen. Dann werden Türen und Luken wieder geschlossen und die Sauna ist zur Benutzung bereit. Rauchsauna ist vor allem ein Brauch aus Südestland. In Nordestland und Finnland existierte der Brauch auch, ist jedoch irgendwann in Vergessenheit geraten. Das Sitzen in der Rauchsauna kam einer Meditation gleich. In der rauchigen Hitze bekommt man schnell ein leichtes Trunkenheitsgefühl, auch ohne etwas getrunken zu haben. Es gibt verschiedene Sagen und Mythen über Saunen und insbesondere Rauchsaunen. Beispielsweise, dass es Glück bringe dreimal Wasser zu werfen (was in der Rauchsauna schon eine Herausforderung ist, da das Atmen selbstverständlich viel schwerer fällt als in einer normalen Sauna) und ein Folklorelied zu singen, wobei man erst aus der Sauna rennen darf, wenn der letzte Ton gesungen ist, was wir dann auch taten.
Wie in Finnland klopft man sich gerne auch einmal kräftig
gegenseitig mit Birkenzweigen ab. Das verleiht ein
stärkendes Gefühl und fördert den Blutfluss.
Nackig rannten wir dann gleich weiter um durch den Regen in den eiskalten See zu springen. Stufe, Stufe, Platsch. Ein Gefühl von tausend Nadelstichen, dass so befreiend ist, dass man es nicht beschreiben kann. Dafür ähnelt man bestimmt optisch auch einem Hund, der ins Wasser geworfen wird, da man so schnell wie möglich wieder nach dem Land hascht und zurück Richtung Sauna rennt. Akustisch ähnelten die Schreie bestimmt denen von Schulmädchen.
Eine sehr angenehme Erfahrung von 5 Saunagängen, 5 Rauchsaunagängen und 5 Sprüngen in den See bot der Abend auf jeden Fall.

Ein wenig wehmütig war dann auch wieder der Abschied nach den schönen Seminartagen, aber es bleibt ja die Erinnerung daran.  Genossen habe ich auch die paar Tage, die ich (von mir aus) ohne Computer und mit einem Handy im Flugmodus verbracht habe.
Im Anschluss verbrachte ich noch einen schönen Abend in Tallinn, an dem ich mit Krissi und Eva (ihrer Mitbewohnerin, die auch deutsche Freiwillige ist) den deutschen Stammtisch besuchte, der zweimal monatlich im „Schnitzelhaus“ in Tallinn stattfand. Neben einem Schnitzel und Bier gab es auch Geschichten von den Anwesenden, die meistens Lehrer am deutschen Gymnasium in Tallinn sind.

Langsam rennt die Zeit vorbei. Meine 12 Monate offiziellen Dienstes sind bald vorbei, es naht schon das Ende des elften Monats. Die Tagesplanung fällt zwar schwer, ist es doch nun schon um 4 wieder dunkel, aber dennoch bleibt viel zu tun und zu erleben. Zum Beispiel erwarten mich noch die Adventszeit, ein Trip zu den Weihnachtsmärkten in Helsinki, Tartu und Tallinn und wie immer viele Geschichten aus Estland. J

Päikest,
Marcel

Dienstag, 12. November 2013

Kuula Palun! 2013

Schon eine kleine Zeit ist es her, aber dennoch möchte ich euch noch ein paar Fotos von letzter Woche Montag zeigen, an dem wir in Tallinn zum Besuch des Maarja Küla Benefizkonzertes waren. Es gab zwei Konzerte: Eines in Tartu im Oktober im Vanemuise Theater und nun eines im russischen Kulturzentrum in Tallinn. Ich entschied mich, mein Freiticket für Tallinn zu lösen und so zogen wir als 4 Bewohner und 2 Arbeiter vom Sõbra Maja in einem Pulk von insgesamt etwa 40 Menschen - alle in feinster Abendkleidung - Richtung Tallinn, wo wir nach einer ersten Probe im russischen Kulturzentrum durch die Stadt Richtung Viru Keskus Einkaufszentrum schritten, um etwas zu essen.
Nach einem Versuch innen im Zentrum einen Platz zu finden, gingen wir einmal um besagtes Zentrum herum, um dann doch beim Burgerbrater Hesburger zu landen, wo wir auch auf andere Gesichter trafen und - immernoch in Festkleidung - Burger verzehrten.
Dann ging es jedoch los. Im russischen Kulturzentrum blendeten die großen Leuchten ab und unsere Bewohner ergriffen die Mikrofone. Unser Musikkreis eröffnete mit einer estnischen Folkloreweise, die insbesondere in Setomaa bekannt ist und LEELO genannt wird. Ein Sänger singt einen Kehrvers vor und alle anderen wiederholen diesen.

Unser Musikkreis beim ersten Lied
Ivo Linna, der "Vater des Programmes" und Alo Kurvits
Keine Ahnung, wie die heißen, aber langbeinige Frauen
machen sich auf einem Blog immer gut ;-)
Die Bühne voll für das letzte Lied

Nach einer kurzen Ansprache folgten viele Stücke eines so unterschiedlichen Repertoires, dass von stimmungsvoll bis zu melancholisch und rockig von allem etwas vertreten war. Uhrheber und Galleonsfigur war der - in Estland - bekannte Sänger und Songschreiber Ivo Linna, den ich nach deutschem Maßstab mit Peter Maffay vergleichen möchte.
Viele junge Schauspieler/innen und Sänger/innen, aber auch der Meister selbst, malten das Programm des Abends in bunten Farben auf die Bühne - just unter den Schein von Hammer und Sichel, die den Rahmen der Bühne des in Sowjetzeiten gebauten Theaters schmückten.



In der Pause und im Anschluss wurden im Foyer auch noch Güter von unseren Werkstätten verkauft.
Die zusammengetragene Summe soll zum Bau eines neuen, großen Gewächshaus für die Vorzucht von Pflanzen dienen.

Hier einmal zum Mithören ein schönes, emotionales Lied, das ich vorher auch schon kannte und das mir selbst sehr gefällt. "Vana Vaksal" von Ivo Linna singt vom "alten Bahnhof", von dem aus er so oft in die Welt enttritt. Viel Spaß beim Reinhören





Die Stimmung beim Konzert zu beschreiben ist schwer, ich würde es aber gerne mit "emotional aufgeladen" versuchen. Insbesondere beim letzten Lied, als alle Musiker mit den Bewohnern auf der Bühne standen, war die Stimmung am Kochen. Ein toller Abend und ein wunderbares Konzert!
Im Anschluss zog es uns samt Bewohnern und Schauspielern und Sängern in den "Venus Club", eigentlich einen Stripclub, aber an diesem Abend trohnten auf dem Thresen weder Männer noch Frauen, sondern vielmehr Speisen und Getränke. Nach einigen feuchtfröhlichen Stunden bestiegen wir dann den Bus und gegen 4 Uhr morgens fiel ich auch in mein Bett.





Ein herzliches DANKE an alle Beteiligten und Besucher
für einen wunderbaren, gefühlvollen  Abend.

AITÄH!
Marcel

Samstag, 2. November 2013

Stromlos glücklich

Da war er wieder einmal weg.
Hatte ich doch gerade ersteinmal von einem Stromausfall berichtet, so rollte auch schon der Sturm, der Europa in Atem hielt, in Estland ein.
Für uns bedeutete das zunächst einmal nur rauschenden Wind und knickende Ästchen, als wir Montagnacht vom Schülerwohnheim nach Maarja Küla zurückgefahren wurden. Mirjam, Alina und ich hatten den Abend bei den Schülern, die das Schulprojekt von Montag bis Donnerstag besuchen, verbracht, damit die zwei Arbeiter, die dies gewöhnlicherweise tun, am Abend zum ersten Benefiztkonzert von Maarja Küla gehen konnten. Am nächsten Montag steht dann das zweite Konzert, diesmal in Tallinn, an, das wir dann auch besuchen werden.
Der Abend war sehr angenehm und entspannend und es war schön, auch einmal die Schüler kennen zu lernen, die nun ja immerhin jeden Tag für viele Stunden im Dorf sind.
Als wir nach hause gefahren wurden, zeigten sich schon die vielen kleinen Zweigchen, die von den Bäumen geweht wurden. Der Wind rauschte durch den Wald.
Dennoch gingen wir bei Strom, Licht und fließendem Wasser zu Bett.
Als wir jedoch am nächsten Morgen erwachten, war der Strom bereits weg und so ging ich ins estnische Haus zur Arbeit, wo wir das erste Mal seit Langem, wie ich mich zu erinnern vermag, keinen warmen Brei, sondern "nur" Brote hatten. Langsam rollten auch die Informationen herein, dass halb Südestland ohne Strom ausharrte und nur Põlva im Landkreis noch Strom hat - ist es ja auch gleich Ort der vielen Geschäfte, Einrichtungen und des Landkreiskrankenhauses. Alle anderen Orte zwischen Võrtssee und Peipussee, von Elva bis Värska und Räpina mussten auf Strom verzichten. Auch Viljandi und Tartu sollen zwischenzeitlich Probleme mit dem Strom gehabt haben.
Für uns bedeutete das im Klartext: Kein Strom, kein Licht, kein Internet, kein fliessendes Wasser, keine Heizung. Zum Mittagessen bekamen wir Suppe, die für 70 Menschen in einem Imbiss in Põlva bestellt wurde, ebenso wie jede Menge Trinkwasser, dass ebenso für uns aus Põlva geholt wurde. Wasser für die Toilettenspülung gab es derweil aus dem Dorfteich. Als wir am Nachmittag zum Dorfeinkauf fuhren, erfuhren wir per SMS, dass der Strom wohl wieder da war, was jedoch auch nur kurz anhielt. Mit Kerzen, Lampen und Essen, sowie Trinkwasser im Schlepptau ging es dann zurück ins Dorf, wo an allen Ecken und Enden in den Häusern Taschenlampen und Kerzen aufgestellt wurden. Kopflampen ergänzten zudem das Aussehen von vielen, darunter auch mir.
Es ist schon seltsam, eine Bewohnerin mit Kerzen und Kopflampe zu wickeln, sowie im Dunkeln Essen zu bereiten, ist es doch bei uns jetzt schon um 5 dunkel.

Den Abend verbrachten wir dann mit Tee (eine Mitarbeiterin wohnt ein Dorf weiter und besitzt einen Holzofen, mit dem sie uns Teewasser gekocht hat) uns Keksen bei Kerzenschein. Eigentlich ein sehr angenehmer, gesellschaftlicher Abend - anstatt nur vor dem Fernseher zu sitzen. Später saßen wir Freiwilligen dann noch bei Kerzenschein zusammen. Eigentlich angenehm, wenn mal der Strom weg ist.
Am nächsten Tag war der Strom dann jedoch wieder da, wobei man sagen muss, dass ich fließend Wasser und Heizung mehr vermisst habe als den eigentlichen Strom und das Licht.
Einen weiteren Tag später war dann auch wieder alles im Lot. Fast alles.
Gerade waren Mirjam, ich und ein Bewohner im Wald zum Spaziergang, als wir folgendes sahen:




Zunächst gingen wir davon aus, dass jemand Laub verbrennt, was jedoch eigentlich ein sinnloser Gedanke war, denn um uns herum wohnt niemand, der dies hätte tun können. Bei näherem Hinsehen und vor Allem Hinhören (ein lautes *BZZZZZZ*) erkannten wir dann, dass sich von den Stromleitungen, die durch den Walt verlaufen, zwei gelöst hatten und auf den Boden gefallen waren.
Vor lauter Schreck wusste ich gar nicht, was zu tun sei. Mirjam rief im Dorf an, ich rief sofort den Notruf - zitternd und fürchtend, die Frau am anderen Ende nicht zu verstehen. Doch alles lief gut und nachdem ich der Frau zum fünften Mal erklärt hatte, wo wir uns befanden, sprintete ich mit dem Bewohner an der Hand zurück, was diesem so gar nicht gefiel, war er doch eher von gemütlicher Natur. Am Dorfeingang wartete ich dann auf den großen roten Wagen, der dann sehr schnell eintraf.
Mit einem Feuerwehrmann ging ich die Strecke bis zum Ort ab. Der Strom wurde inzwischen von der Stromfirma abgeschaltet. Als dann auch die Elektriker an Ort und Stelle waren, hieß es "aufatmen" und wir zogen uns zurück. Die Leitungen wurden ausgetauscht und wir hatten alle eine Geschichte zum Erzählen. Geht man heute die Strecke an den Stromleitungen ab, kann man die Schneise deutlich sehen, wo die Leitung den Boden berührte: Ein schwarzes Band zieht sich am Boden entlang, gefolgt von abgebrannten Büschlein.
Ein Glück, dass es zuvor geregnet hatte und der Boden naß war.

So vergingen dann wieder ein paar Abenteuer im estnischen Wald, ich hatte mit meinem Estnisch eine wahrhafte "Feuerprobe" (Entschuldigung für das schlechte Wortspiel) und wir konnten alle einmal sehen, wie abhängig wir doch vom Strom sind.

Terved tervitused,
Marcel

Montag, 28. Oktober 2013

Eine Stadt, Zwei Staaten


Was ist an diesem Bild so besonders?
Sehen wir hier etwa besonderes Laub?
Habe ich mir neue Schuhe gekauft?

Genauer betrachtet scheint an dem Bild nichts außerordentlich spannend.
Das dieses Bild uns doch so einfach möglich ist, verdanken wir der EU - oder besser gesagt dem Schengen-Abkommen, denn während mein rechter Fuß weiterhin in Estland steht, so befindet sich mein linker Fuß auf diesem Bild bereits in Lettland - einem anderen Staat.
Ausgeschildert wie eine Attraktion:
Der Grenzübergang
Dieses Motiv ist wohl eines der häufigsten gewählten Motive jener Touristen, die Valga, bzw. Valka, besuchen. Valga ist eine kleine Stadt am südlichen Rande Estlands, direkt an der lettischen Grenze, und gleich Zentrum des historischen Gebietes Livlands
Keine Tanke, sondern tatsächlich schon der Übergang
Direkt auf der andere Seite des kleinen Grenzhäuschens befindet sich das lettische Örtchen Valka. Das sich die beiden Namen "Valga" und "Valka" ähneln ist keinesfalls Zufall, sondern weist auch auf den Slogan der beiden Städte hin: "Valga/Valka - Eine Stadt, zwei Staaten".
Vor hunderten Jahren wurde hier die Stadt unter dem damaligen Namen Walk gegründet und war seither ein Zentrum estnischer und lettischer Gelehrter, bis bei der ersten Unabhängigkeitserklärung Lettlands 1917 und Estlands 1918 die Frage auftrat, wem denn die Hoheit über Walk gehörte.
Nachdem die Frage unter der Führung eines britischen Schlichters nicht geklärt werden konnte, teilte dieser die Stadt entlang des Dorfbaches. Der leicht größere Ostteil samt Bahnhof und Ordenskirche ging an Estland, der kleinere Ortsteil an Lettland. Zu Sowjetzeiten wurden die Grenzen zwischen der estnischen und der lettischen SSR wieder geöffnet, nach der Unabhängigkeit wieder eröffnet. Erst durch den Beitritt zum Schengenabkommen 2007 wurden die Grenzkontrollen wieder abgeschafft und man konnte die "andere Seite" der Stadt unkompliziert erreichen. Erst 2008 rollten wieder Passagierzüge von Riga nach Valga.
Ein großer begehbarer Zugwagen erinnert an die Eröffnung
der Fernstrecke Riga-Valga-Pskov
Heute warten die Bürger gespannt den 01. Januar 2014 ab, an dem Lettland den Euro einführt, der momentan noch eine große Barriere darstellt, da es sich für die Bewohner momentan zwecks Geldwechsel kaum lohnt, in den jeweils anderen Stadtteil zu gehen. Von der gemeinschaftlichen Währung werden beide Seiten profitieren.
Nachdem wir am Samstag das estnische Nationalmuseum in Tartu unsicher machten,  nutzten wir am Sonntag unseren Abstecher nach Valga, um uns nicht nur die Stadt Valga, sondern auch die lettische Stadt Valka samt deutschem Soldatenfriedhof, sowjetischem Mahnmahl und Sängerbühne anzusehen.
Zudem nutzten wir auch eine der wenigen sinnvollen Zugstrecken Estlands. Da Züge langsamer, teurer und unbequemer sind, lohnen sich nur wenige Strecken in Estland, die besser und günstiger sind als das gut ausgebaute Bussystem.
Züge spielen im gesamten Baltikum daher eher eine untergeordnete Rolle.

Am Mittwoch zuvor erinnerte uns ein kleines Tier, wie abhängig wir doch von Luxusgütern wie Elektrizität sind. Als wir gegen 23 Uhr den Bus von Tartu an unserer Bushaltestelle im Wald verließen und uns auf den Weg ins Dorf aufmachten, sahen wir schon hinter der ersten Waldbiegung: "Etwas ist anders!" Für gewöhnlich erblickt man hinter der Biegung einen kleinen Lichtpunkt am Ende des Weges, doch dieser wollte uns heute nicht ins Auge fallen. Im Dorf angekommen erwartete uns Dunkelheit. Keine Straßenlaternen, keine Notbeleuchtung, kein Licht in den Fenstern. Alles war in Dunkelheit getaucht. In unserem Haus angekommen erfuhren wir, dass gegen 8 Uhr abends der Strom im ganzen Dorf ausgefallen war.
So saßen wir bei Kerzenschein in der leicht ausgekühlten Küche des Vana Maja, kratzten unsere Trinkwasserreste zusammen und unterhielten uns bei warmem Licht und etwas zu essen. Eigentlich war es schon etwas peinlich, wie exotisch diese Sitatution auf uns wirkte.
Gegen ein Uhr nachts kam dann eine Welle an Geräuschen und Farben auf uns zu:
Die Straßenlaternen draußen und die Beleuchtung im Gang erstrahlten wieder, die Heizung begann wieder zu rauschen, das Wasser in den Spülkästen und Leitungen schoß nach. Der Strom war wieder da.
Bei Kerzenschein in der Küche: Markus, Meike (die gerade ein Praktikum in Tallinn macht und uns besuchte) und ich :)

Am nächsten Tag erfuhren wir, dass die ganze Gemeinde Vastse-Kuuste mit allen umliegenden Ortschaften vom Netz abgeschnitten war. Ein Biber hatte sich ein Abendessen geleistet und damit einen Baum auf eine Stromleitung gehetzt. Die Stromleitung zu ersetzen hatte knapp vier Stunden vollen Einsatz gefordert.
Wie große Auswirkungen doch manchmal kleine Dinge - wie das Abendessen eines Nagetiers - in sich tragen.

Mein Abschiedsgruß heute ausnahmsweise einmal auf Lettisch:

Uz redzēšanos!
Marcel

Dienstag, 22. Oktober 2013

0,5 Prozent

Nein, heute geht es nicht um Alkohol. Wobei mir dabei einfällt, dass Kali 0,5 Prozent Alkohol inne hat. Kali das ist estnisches Brotbier. Ähnlich wie das russische Kwass wird es auch Getreiden gebraut - nur eben in Estland aus Brot, wodurch es eben schmeckt wie ein "Glas Brot". Bei Esten ist dieses Getränk der Hit und auch ich habe mich darin verliebt. Ohnehin ehren die Esten ihr Brot - beziehungsweise ihre Brote, denn die Esten haben gleich mehrer komplett unterschiedliche Namen dafür.
Da gäbe es:

1. SAI - Weißbrot, dass zu Zarenzeiten nur die Reichen gegessen haben, da es etwas besonderes wird. Alles süße Gebäck hat irgendetwas mit Weißbrot zu tun. So gibt es Saiake - süße Brötchen - oder Saiavorm - Weißbrotauflauf mit süßen Früchten zwischen Schichten von Brot.

2. SEPIK - Mischbrot, dass gerne auch Körner beinhaltet

3. LEIB - DAS eine Brot, das RICHTIGE Brot. Dunkles Brot in allen Formen und Farben. Keine Mahlzeit ohne Brot. Schon die alten Esten sagten " Küll jumalal päevi, kui peremehel leiba." - "Wohl dem Gott die Tage wie dem Familienvater das Brot!" - das eine wichtige Werk.

4. SAIB - eine relativ neue Wortschöpfung aus "leib" und "sai", das ein Mischbrot bezeichnet, dass sich nur leicht in Konsistenz, Form und Geschmack von "sepik" unterscheidet.

Beim Brot hört der Werdegang von Roggen und Weizen jedoch nicht auf. Nein!
Beim Brot fängt alles ersteinmal an. So wird Brot nicht nur daheim bei allen drei (warmen) Mahlzeiten dazugereicht, sondern auch in Hotels und Restaurants. 


Die estnische Hausfrau (oder seien wir politisch korrekt: auch die estnischen Hausmänner) wissen um die Vielseitigkeit ihres "dunklen Goldes". So bauen viele Gerichte auf einem Leib Brot auf.

Hier einige meiner Favoriten, von denen ich sobald versuche, Rezepte hochzuladen:
  1. Leivasupp:
    Brotsuppe. Ein süßer Nachtisch in Breiform, der gerne warm oder kalt mit Quark, Rosinen oder Milch genossen wird.
  2. Leivavorm/ Saiavorm:
    Brotauflauf wie beschrieben. Schichten von Brot mit dazwischen aufgeschichteten Frischen. Am Besten warm aus dem Ofen mit Milch.
  3. Kali:
    Aus Brot gegärtes Malzbier mit karamelligem Geschmack. Sehr gut eisgekühlt an den wenigen warmen Sommertagen Estlands.
  4. Küüslauguleivad:
    Knoblauchbrot, die es nicht nur zu Estlands beliebtestem Bar-Snack geschafft hat, sondern sogar abgepackt in Supermärkten und Kinos verkauft wird. Geröstete oder gebratene Brotstückchen mit Knoblauch, am liebsten mit Sahnedip. Man reicht die Knoblauchzehe meist separat dazu, die am Brot gerieben wird.
  5. Leivatort:
    Brottorte. Mehrere Schichten Brot neben und übereinander, zwischen denen sich herzhafte Füllungen befinden, die wie eine Torte aufgestapelt werden. Kann alles beinhalten von Fisch bis Schinken, immer jedoch Sahne, Käse und Gemüse.
Und diese Rezepte sind nur einige.
Die Ironie an der Geschichte: In Estland gibt es beinahe keine Bäckereien. Das Brot bekommt man im Supermarkt oder am Kiosk, in südlichen Gegenden am rollenden Kiosk - einem Verkaufs-LKW der an festgelegten Zeiten in menschenarme Landstriche ohne Supermärkte kommt, um die dort lebenden Menschen zu versorgen.
Konditoreien und Patisserien gibt es zwar in den Städten, Brot oder Btötchen verkaufen diese jedoch selten - eher Torten und Kuchen, aber auch Salziges, wie die estnischen Pirukas, die es ähnlich auch in Russland (Pirogi), Polen (Piroggen) oder Finland (Pirakkas) gibt. Pirukas sind mit z.B. Kohl, Fleisch oder Karotten befüllte Teigtaschen. Dafür verkaufen Supermärkte auch im Schnitt öfter frisches Brot und selbst gemachte Teigwaren.

Doch zurück zu meinem Hauptthema. Was möchte ich nun mit 0.5 Prozent ausdrücken?
Dazu später mehr. Nun ersteinmal ein paar Neuigkeiten und ein Kurzbericht über das Wochenende in Tallinn:



 Noch eine Woche dauert es bis zum ersten Maarja Küla Benefizkonzert. Jedes Jahr gibt es zwei Konzerte: eines in Tartu und eines in Tallinn. Nächsten Montag ist ersteinmal das Vanemuise Theater in Tartu Schauplatz des Programmes bekannter estnischer Sänger, eine Woche später, am 4. November, dann das russische Kulturzentrum in Tallinn.
An alle Freiwilligen in Estland: Karten sichern!


 Ich habe mich mit Ingrid, meiner Sprachlehrerin unterhalten und sie hat mir Mut zugesprochen vor meinem Verlassen Estlands einen Sprachtest abzulegen. B1 würde ich sicher schaffen, für B2 müsste ich noch ein wenig büffeln. Je nachdem, was ich mir zutraue, muss ich nun überlegen, welchen Test ich ablege. B1 würde (in der Theorie) ausreichen um eingebürgert zu werden und B2 um einen estnischen Wissenschaftsgrad zu studieren. Momentan habe ich zwar nichts von beiden vor, aber zumindest den Sprachtest würde ich - und sei es um meinetwillen - sehr gerne ablegen.


 Um von Sprachen zu reden: Ich habe mein (erstes GROSSES) Sprachziel geschafft, das ich mir vor dem Jahr gesetzt habe. Vor meiner Ausreise habe ich auf Youtube estnische Lieder durchgeklickt und die estnische Version von "Hakuna Matata" aus dem "König der Löwen" gefunden. Seitdem war es mein Ziel, diesen Film auf estnisch zu schauen, was ich nun getan habe. Zwar habe ich noch nicht jedes Wort verstanden, dennoch habe ich schätzungsweise 80%-90% der Dialoge verstanden.


 Der Herbst rollt ein in Maarja Küla. Die Blätter sind schon von den Bäumen gefallen und wir haben jetzt beinahe jeden Morgen Frost auf dem Boden. Die letzten Äpfel werden zu Apfelmus eingekocht, die Blätter werden aufgerächt und der Wald legt sich in rot und gelb.
Sooo schöön :)
Zeitgleich findet sich auf allen Märkten, in allen Supermärkten und auf allen Speisekarten ein ähnliches Herbstmenü: Kartoffeln, rote Beete, Karotten, Kohl, Äpfel, Getreide
O.K.
Fairerwaise muss man sagen, dass diese Zutaten auch schon so die hauptsächlichen Bestandteile der normalen estnischen Küche sind, aber nun eben noch ein wenig mehr ;-)


 Wiedereinmal war ich in Tallinn, da Mirjam noch gar nicht die Freuden der Hauptstadt erkunden durfte. Doch auch diesmal gab es wieder neue Akzente, beispielsweise den Blick vom Turm der Oleviste-Kirche, dem ehemalig höchsten Gebäude der Welt (ca. um 1250).


Ebenso hoch hinaus ging es im Viru Hotel, dem ersten Hochhaus Estlands und dem einzigen ausländischen Hotel zu Sowjetzeiten, denn die Erbauer waren Finnen. Zu Sowjetzeiten befand sich unter dem Dach ein verstecktes Lager des KGB, des sowjetischen Geheimdienstes, der das gesamte Hotel ausspähte. Heute kann man mehrmals am Tag in einer Tour den Turm besteigen und unter dem Dach nicht nur den Ausblick über Zallinn genießen, sondern auch durch die Originalräume schreiten. Zu sehen gibt es originales Material, gute Ausblicke und gleichzeitig darf man Geschichten und Anekdoten lauschen - beispielsweise über die Anschaffung des ersten Faxgerätes in 1989 (!), über die Verwendung von Kuchen und Kabarettkarten als hotelinterne Währung und über die Ausspähung von Personal und Gästen.


 Wenn auch in veränderter Form sind überall wieder Originalbeschriftungen angebracht worden, die es in diesem Geheimlager tatsächlich gab. Am Lächerlichsten erscheint der Verheimlichungsversuch des Heiligtums - des Funkraumes. Dort prangt an der Tür zur Abschreckung der Satz "Siin ei ole midagi!" - "Hier gibt es nichts zu sehen!". Sowjetagenten hatten ausgefeilte Methoden.


Am Samstagabend besuchte ich mit Mirjam die "Peter- und-Paul-Kathedrale", wobei ich das Wort Kathedrale immernoch übertreibend finde. Dort besuchten wir die englischsprachige römisch-katholische Messe (es gibt auch noch estnische, russische, lateinische und polnische). Es war keine besonders spektakuläre Messe, aber dennoch schön - war es doch meine erste katholische Messe in Estland. Leider konnte man den italienischen Priester wegen des Widerhalls kaum verstehen und ich vermisste die Begleitung einer Orgel oder wenigstens von Gesang schmerzhaft sehr.
Warum ich das alles sage? Um wieder auf meine 0.5 Prozent zu kommen:
In Estland gibt es keine hohe Kirchgängerrate. Mit 15 % bilden die Lutheraner die größte Religionsgemeinschaft, gefolgt von 8% russisch orthodoxen. Katholiken bringen es in Estland auf die besagten 0,5 Prozent - das entspricht 5000 Mitgliedern und 6 Kirchen. Estland besitzt daher im Strengen Sinne nicht einmal eine eigene Überdiözese, sondern ist ein Untergebit des Erzbistums Finnlands. In der Geschichte gehörte das Bistum Estlands zum Erzbistum Riga.
Die Kirchenentfernung der Esten hat viele Gründe. Estland war nie ein klassisches Land der Missionierung gewesen. Die ersten deutschen Kreuzritter, die Polen und die Orden brachten den Katholizismus nach Estland, die Schweden und die späteren Deutschbalten den Lutheranismus und schließlich die russischen Zaren das orthodoxe Christentum. Die verschiedenen Minderheiten wie die Seto und die Zwiebelrussen zeigen eine relativ hohe Religionszugehörigkeit - zur orthodoxen Kirche.
Die Peter-und-Paul-Kirche in Tallinn,
die ich am Samstag mit Mirjam zur
englischsprachigen Messe besucht habe.
Verbreitet waren in Estland auch verschiedene heidnische Glaubensrichtungen und diverse Spiritualismen. Später verringerte sich die Zahl der Kirchengänger durch die Sowjetpolitik noch mehr. Heute zählt Estland zu den Ländern mit der wenigsten Kirchenzugehörigkeit, wobei die Rate der Kirchgänger in allen drei "großen" Konfessionen wächst.
Doch gerade in diesem Land muss man Kirche von Religion und wiederum von Spiritualität trennen. Kaum ein Este gehört eine Kirch an, aber noch weniger werden sagen, dass sie nicht spirituell oder gläubig sind. Aufgrund vieler geschichtlicher und sozialer Faktoren lehnen sie jedoch einen Platz in der Kirche mitsamt ihren Dogmen ab. Spirituell sind sie jedoch schon - und das in allen Ausrichtungen. Esten fühlen etwas - ein etwas, dass sie nicht beschreiben können. Diese Ausrichtung bezieht sich sowohl auf ethnische Esten, als auch ethnische Russen in Estland. Sie glauben an den Umgang mit der Natur, an moralische Grundwerte, eine tiefe Verbindung und einen Sinn im Leben. Wo diese Ausrichtungen wieder liegen mögen, das unterscheidet sich weitgehend.
In Estland herrscht zudem ein recht verbreiteter Aberglaube, der so gar nicht zu den modernen Strukturen einer nach vorne gerichteten Gesellschaft passen will.
Zwei Beispiele, die ich selbst von Esten im Dorf gehört habe:
  1. Pflückt man Kräuter, so darf sich der eigene Schatten nicht über der Pflanze liegen, die man schneidet. Tut er dies doch, so legt sich die eigene Krankheit auf die Pflanze und überträgt sie an alle, die von der Pflanze zu sich nehmen.
  2. Taschen darf man nicht zwischen den Beinen abstellen - z.B. im Geschäft, im Wartezimmer oder im Auto. Das bringt Unglück.
Weitere Beispiele, von denen ich im Internet gelesen habe, sind "Pfeift man in seinem eigenen Haus, wird es kurz darauf abbrennen." und "Wer ein Hemd verkehrt herum anzieht, wird kurz darauf verprügelt.".
Auch gibt es im estnischen Fernsehen auffällig viele Serien und Dokumentationen aus Ländern wie Russland oder der Ukraine, die sich mit Wahrsagerei und Phänomenen beschäftigen.

Das zeigt:
Die Esten sind keine Kirchgänger, aber sie wollen auch nicht Atheisten oder Agnostiker genannt werden.
Die Esten glauben. An etwas.
Nur eben anders als vielleicht anderswo.