Donnerstag, 24. Januar 2013

Zu viele Ö's!

Mein Heim: das Vana Maja
Hier ist er: Der erste ausführliche Post aus dem kleinen Reich der Esten.
Nach meiner ersten Einführungswoche, die jeden Tag spätestens nach dem Mittagessen mit "So now you can do, what you want!" aufwartete, habe ich diese Woche mit der Arbeit richtig angefangen.
Wer es noch nicht weiß:
Ich arbeite in einem teilautarken "Dorf" - Maarja Küla (küla = Dorf). Vergleichbar ist das Projekt in etwa mit dem Arche-Projekt - nur eben anders.
Das Dorf besitzt fünf Häusern, in denen Bewohner und Arbeiter wohnen. Die teilweise ähnlich gebauten Häuser tragen die Namen "Estnisches Haus" (Eesti maja), "Deutsches Haus" (Saksa maja), "Skandinavisches/ Nordisches Haus" (Põhjala maja), "Freundehaus" (Sõbra maja) und "Schwedisches Haus" (Rootsi maja). Zunächst werde ich im Rhythmus von je zwei Wochen in den beiden letzten Häusern arbeiten. Rootsi und Sõbra maja. Diese Woche begann mit letzterem doch dazu gleich mehr.


Im Dorf gibt es zu dem noch das Külakeskus (Dorfzentrum), sowie ein Gebäude mit Werkstätten für Töpfern, Holzarbeiten, Handarbeiten, u.Ä., die Sauna (die ich selbst auch schon besucht habe - mit Sprung ins Eisloch im Dorfteich versteht sich), ein paar Schuppen und das Vana Maja (altes Haus), in dem Zimmer für Arbeiter und die Freiwilligen untergebracht sind - also auch mein Zimmer - sowie andere Räume (etwa Computer, Toiletten und die Küche für die Freiwilligen und die Schule - also jene Personen, die in Maarja Küla die Schule oder die Werkstätten besuchen, aber nicht hier wohnen - sie kommen jeden Tag mit dem Bus). Das Vana Maja habe ich schon mehrmals unfreiwillig umbenannt. Auch wenn ich immer "nur" einen Vokal vertauscht habe - so sagte ich "Vene Maja" statt "Vana Maja" - habe ich damit ausgedrückt, dass ich jetzt nicht ins "alte Haus" sondern ins "russische Haus" gehe. Verrückte Welt!
Zehn Minuten zu Fuß entfernt durch den Wald erreicht man die Bushaltestelle, die einen in Windeseile viermal am Tag nach Tartu (die nächstgrößere richtige STADT mit ca. 100.000 Einwohnern auch die zweitgrößte Stadt in Estland) oder Põlva bringt. Põlva ist die nächstgrößere Gemeinde mit 6.000 bis 12.000 Einwohnern - so sicher waren sich die Esten beim Erklären da auch nicht. Immerhin reicht Põlva's Größe aus, um dem Landstrich Põlvamaa (maa = Land - bspw. Saksamaa = Deutschland/ Venemaa = Russland) seinen Namen zu geben.
Aus dem Dorf heraus in die andere Richtung erreicht man in 2-5 Minuten Fußmarsch einen wunderbaren Fluss, der zunächst optisch wie ein See wirkt. Leider gab es in der letzten Woche ausgerechnet einen Tag mit schlechtem Wetter - wie sollte auch anders sein: genau an dem Tag, an dem ich die Kamera ausgepackt habe.
Für Fotos aus meiner Wunderwelt ist also gesorgt.
Das Sõbra Maja ist vorne rechts.
Hinten rechts zu sehen ist das
Saksa Maja - das deutsche Haus
Wie bereits erwähnt arbeite ich diese Woche im "Freundehaus" - "Sõbra Maja". Die ersten beiden Tage dieser Woche hatte ich dabei quasi Hausdienst. Will heißen: der Hausleiterin beim Bereiten des Essens und beim Aufräumen/ Reinigen zu helfen - unterstützt von zwei Bewohnern. Des weiteren habe ich Artjom* (* ich werde in meinem Blog zu jedem Zeitpunkt die Namen - insbesondere die der Bewohner abändern! Die Namen entsprechen daher NICHT den tatsächlichen Namen) beim Tagesablauf geholfen. Artjom ist von Muskelabbau betroffen und sitzt im Rollstuhl. Essen, Waschen und Ähnliches ist für ihn zwar kein Problem - beim Ankleiden und Ähnlichem ist Hilfe von Nöten.

Nach diesem Jahr werde ich dank ihm sicherlich der geduldigste Mensch aller Zeiten sein!

Heute war mein erster von drei Workshop-Tagen in dieser Woche. Workshop-Tag will heißen, dass ich an den Workshops in den Werkstätten teilnehme. Heute hieß das für mich, einen Teller und viele kleine Vögel aus Ton zu formen, die nach dem Brennen zusammen mit den Werken von den Bewohnern in den Hausbedarf oder in den Maarja Küla Pood - den Maarja Küla Shop - wandern. Das Dorf unterhält sowohl in Põlva, als auch im Lõunakeskus (einem Einkaufszentrum) in Tartu einen kleinen Laden, an dem Produkte wie etwa Teppiche und Keramik verkauft werden, die im Dorf produziert werden. Im Laden selbst arbeiten dabei auch Bewohner. Das Projekt unterstützt das Arbeitsprojekt, dass Bewohnern die Möglichkeit geben soll, selbstständig für sie geeignete Arbeitsplätze zu finden, die auf ihre Wünsche und Fähigkeiten angepasst sind.
In diesem Eisloch war auch ich bereits!
Zu sehen: Die Dorfsauna!
Der Verkauf ist nicht als Einnahmequelle für das Dorf gedacht, deckt aber immerhin seine eigenen Kosten - die Bewohner verdienen also auch daran, dass sie arbeiten dürfen. Im Mittelpunkt des Konzeptes um den Pood (Shop) steht also, den Bewohnern eine Möglichkeit zu geben, etwas zu schaffen und zu erarbeiten, dass Ihnen Spaß macht, und Ihnen somit einen Verknüpfungspunkt zur lokalen Gesellschaft zu geben.
Estland an sich arbeitet sich so langsam in mein Herz. Gerade im Supermarkt oder auf den Straßen  erlebe ich beispielsweise nichtsdestotrotz kleine Kulturschöckchen. So ist es mir derweilen unbegreiflich, warum man Milch in Tüten, anstatt in Flaschen oder Tetrapacks verkauft. Aber ok: andere Länder, andere Milchprodukte.
Apropos Milchprodukt: Solltet ihr einen schwachen Magen haben, so empfehle ich euch die estnische Hausmannskost NICHT zu essen!
Lecker war es bislang fast immer, allerdings habe ich mich noch nicht an die Kalorienfülle, die Kohlenhydrate und den Fettgehalt gewöhnt. Die ersten Tage hatte ich starke Magenprobleme. !Ich brauche hier irgend einen Sport!", denke ich jedes Mal am Esstisch und ärgere mich dabei, dass ich meine Joggingschuhe nicht eingepackt habe. In drei Monaten möchte ich nicht wie Rainer Kalmund aussehen. Bitte nicht.
Egal ob im Restaurant oder bei der Arbeit: Öl und Hapukoor/ Happukoor (ich bin mir über die Schreibweise gerade nicht im Klaren) verfolgen einen überall hin. Hapukoor/Happukoor kann man in etwa mit saurer Sahne vergleichen - nur, dass es in Estland ÜBERALL landet. Zu den Nudeln - Hapukoor! Zu Kartoffeln - Hapukoor! Über den Frühstückshaferbrei - Hapukoor. Auch Milch, Kefir und Joghurt sieht man zu jeder Tageszeit auf dem Esstisch. Warmes Essen von früh bis spät - auch daran muss ich mich ersteinmal gewöhnen.
Die Sprachkenntnisse - nun ja - werden ausgebaut. Arbeitssprache für mich ist Englisch - teilweise rede ich am Tag nur mit mir selbst Deutsch. Mit einer Arbeiterin im Sõbra Maja quetsche ich das notwendigste auf Russisch zusammen - sie spricht kein Englisch und ich kein Estnisch/ Võru (südestnischer Dialekt). Mein Selbstlernerkurs wird derweilen jeden Tag gezückt. Mein offizieller Sprachkurs wird am 5. Februar beginnen und zweimal wöchentlich an der Uni von Tartu in englischer Sprache gehalten - von der Mutter einer Bewohnerin meines Arbeitshauses. Denn die lehrt als Englisch/Estnisch-Professorin an der Universität :-)
Im deutschen Institut von Tartu sollte der Kurs ursprünglich stattfinden, jedoch - wer hätte das gedacht - mangelt es an estnisch-lernwilligen Deutschen in Tartu.
Auf den Beginn des Kurses freue ich mich bereits. Kaum kann ich es erwarten, mich richtig reinklemmen zu können, denn im Moment würde ich nur allzu gern verstehen, was da am Esstisch oder in den Bussen palavert wird. Mein Russisch- und Estnisch-Zeug steht fürs Lernen schon in den Startlöchern.


Oft breche ich in den abstrusesten Situationen in Gelächter aus. Grund ist, dass die estnische Sprache ähnlich der finnischen Sprache alles so schreibt, wie sie es ausspricht. Zwei Vokale bedeuten, dass dieser Vokal lang ist. Zwei Konsonanten bedeuten NICHT (wie im Deutschen), dass der vorherige Vokal kurz, sondern der Konsonant lang ist. Buchstaben wie das X, das Z oder das C trifft man nur in fremden Wörtern.
Aus der Physik wird die Füüsik, aus Möbeln werden Mööbel und aus dem Express der Ekspress.
Das ist zwar nicht ungewöhnlich, sieht für das deutsche Auge jedoch auf den ersten Blick lustig aus.
Gleich verhält es sich mit den langen Vokalen, bei denen ich nicht weiß, wann man mit dem Sprechen aufhören soll. Eine wahre Obsession haben die Esten anscheinend im Buchstaben "Ö" gefunden.

Töö = die Arbeit

Söö = das Essen

Öö = die Nacht

töööö = die Arbeitsnacht/ Nachtschicht

öötöö = die Nachtarbeit

Auch deutsch-klingende Wörter sind keine Seltenheit. Ich erinnere an "mööbel", möchte aber auch "bakpulver", "nelk" und "švamm" (š = sch) erwähnt haben.

Mit diesen Worten zum Mittwoch soll es das erst einmal gewesen sein.
Mehr Stuß aus dem estnischen Wald gibt es sicher in Kürze!
Liebe Grüße,
Marcel




P.S. Die Esten scheinen sich wirklich alle zu kennen. Estland ist ein Dorf!
Andächtig den Geschichten der Hausleiterin des Sõbra Maja lauschend, vielen oft die Namen hochrangiger Esten. Darunter auch Sponsoren des Dorfes und wichtiger Politiker, Professoren und Poeten. Man verdeutliche sich: Estland ist etwas kleiner als Niedersachsen und besitzt dabei mit 1,4 Millionen in etwa die Einwohnerzahl vom Großraum Leipzig-Halle. Von hier aus gesehen liegt die russische Grenze (ca. 30 km) näher als Tartu (ca. 50 km)!
Die Esten sind vielleicht nicht viele, aber sie machen sich! :)

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