Dienstag, 22. Oktober 2013

0,5 Prozent

Nein, heute geht es nicht um Alkohol. Wobei mir dabei einfällt, dass Kali 0,5 Prozent Alkohol inne hat. Kali das ist estnisches Brotbier. Ähnlich wie das russische Kwass wird es auch Getreiden gebraut - nur eben in Estland aus Brot, wodurch es eben schmeckt wie ein "Glas Brot". Bei Esten ist dieses Getränk der Hit und auch ich habe mich darin verliebt. Ohnehin ehren die Esten ihr Brot - beziehungsweise ihre Brote, denn die Esten haben gleich mehrer komplett unterschiedliche Namen dafür.
Da gäbe es:

1. SAI - Weißbrot, dass zu Zarenzeiten nur die Reichen gegessen haben, da es etwas besonderes wird. Alles süße Gebäck hat irgendetwas mit Weißbrot zu tun. So gibt es Saiake - süße Brötchen - oder Saiavorm - Weißbrotauflauf mit süßen Früchten zwischen Schichten von Brot.

2. SEPIK - Mischbrot, dass gerne auch Körner beinhaltet

3. LEIB - DAS eine Brot, das RICHTIGE Brot. Dunkles Brot in allen Formen und Farben. Keine Mahlzeit ohne Brot. Schon die alten Esten sagten " Küll jumalal päevi, kui peremehel leiba." - "Wohl dem Gott die Tage wie dem Familienvater das Brot!" - das eine wichtige Werk.

4. SAIB - eine relativ neue Wortschöpfung aus "leib" und "sai", das ein Mischbrot bezeichnet, dass sich nur leicht in Konsistenz, Form und Geschmack von "sepik" unterscheidet.

Beim Brot hört der Werdegang von Roggen und Weizen jedoch nicht auf. Nein!
Beim Brot fängt alles ersteinmal an. So wird Brot nicht nur daheim bei allen drei (warmen) Mahlzeiten dazugereicht, sondern auch in Hotels und Restaurants. 


Die estnische Hausfrau (oder seien wir politisch korrekt: auch die estnischen Hausmänner) wissen um die Vielseitigkeit ihres "dunklen Goldes". So bauen viele Gerichte auf einem Leib Brot auf.

Hier einige meiner Favoriten, von denen ich sobald versuche, Rezepte hochzuladen:
  1. Leivasupp:
    Brotsuppe. Ein süßer Nachtisch in Breiform, der gerne warm oder kalt mit Quark, Rosinen oder Milch genossen wird.
  2. Leivavorm/ Saiavorm:
    Brotauflauf wie beschrieben. Schichten von Brot mit dazwischen aufgeschichteten Frischen. Am Besten warm aus dem Ofen mit Milch.
  3. Kali:
    Aus Brot gegärtes Malzbier mit karamelligem Geschmack. Sehr gut eisgekühlt an den wenigen warmen Sommertagen Estlands.
  4. Küüslauguleivad:
    Knoblauchbrot, die es nicht nur zu Estlands beliebtestem Bar-Snack geschafft hat, sondern sogar abgepackt in Supermärkten und Kinos verkauft wird. Geröstete oder gebratene Brotstückchen mit Knoblauch, am liebsten mit Sahnedip. Man reicht die Knoblauchzehe meist separat dazu, die am Brot gerieben wird.
  5. Leivatort:
    Brottorte. Mehrere Schichten Brot neben und übereinander, zwischen denen sich herzhafte Füllungen befinden, die wie eine Torte aufgestapelt werden. Kann alles beinhalten von Fisch bis Schinken, immer jedoch Sahne, Käse und Gemüse.
Und diese Rezepte sind nur einige.
Die Ironie an der Geschichte: In Estland gibt es beinahe keine Bäckereien. Das Brot bekommt man im Supermarkt oder am Kiosk, in südlichen Gegenden am rollenden Kiosk - einem Verkaufs-LKW der an festgelegten Zeiten in menschenarme Landstriche ohne Supermärkte kommt, um die dort lebenden Menschen zu versorgen.
Konditoreien und Patisserien gibt es zwar in den Städten, Brot oder Btötchen verkaufen diese jedoch selten - eher Torten und Kuchen, aber auch Salziges, wie die estnischen Pirukas, die es ähnlich auch in Russland (Pirogi), Polen (Piroggen) oder Finland (Pirakkas) gibt. Pirukas sind mit z.B. Kohl, Fleisch oder Karotten befüllte Teigtaschen. Dafür verkaufen Supermärkte auch im Schnitt öfter frisches Brot und selbst gemachte Teigwaren.

Doch zurück zu meinem Hauptthema. Was möchte ich nun mit 0.5 Prozent ausdrücken?
Dazu später mehr. Nun ersteinmal ein paar Neuigkeiten und ein Kurzbericht über das Wochenende in Tallinn:



 Noch eine Woche dauert es bis zum ersten Maarja Küla Benefizkonzert. Jedes Jahr gibt es zwei Konzerte: eines in Tartu und eines in Tallinn. Nächsten Montag ist ersteinmal das Vanemuise Theater in Tartu Schauplatz des Programmes bekannter estnischer Sänger, eine Woche später, am 4. November, dann das russische Kulturzentrum in Tallinn.
An alle Freiwilligen in Estland: Karten sichern!


 Ich habe mich mit Ingrid, meiner Sprachlehrerin unterhalten und sie hat mir Mut zugesprochen vor meinem Verlassen Estlands einen Sprachtest abzulegen. B1 würde ich sicher schaffen, für B2 müsste ich noch ein wenig büffeln. Je nachdem, was ich mir zutraue, muss ich nun überlegen, welchen Test ich ablege. B1 würde (in der Theorie) ausreichen um eingebürgert zu werden und B2 um einen estnischen Wissenschaftsgrad zu studieren. Momentan habe ich zwar nichts von beiden vor, aber zumindest den Sprachtest würde ich - und sei es um meinetwillen - sehr gerne ablegen.


 Um von Sprachen zu reden: Ich habe mein (erstes GROSSES) Sprachziel geschafft, das ich mir vor dem Jahr gesetzt habe. Vor meiner Ausreise habe ich auf Youtube estnische Lieder durchgeklickt und die estnische Version von "Hakuna Matata" aus dem "König der Löwen" gefunden. Seitdem war es mein Ziel, diesen Film auf estnisch zu schauen, was ich nun getan habe. Zwar habe ich noch nicht jedes Wort verstanden, dennoch habe ich schätzungsweise 80%-90% der Dialoge verstanden.


 Der Herbst rollt ein in Maarja Küla. Die Blätter sind schon von den Bäumen gefallen und wir haben jetzt beinahe jeden Morgen Frost auf dem Boden. Die letzten Äpfel werden zu Apfelmus eingekocht, die Blätter werden aufgerächt und der Wald legt sich in rot und gelb.
Sooo schöön :)
Zeitgleich findet sich auf allen Märkten, in allen Supermärkten und auf allen Speisekarten ein ähnliches Herbstmenü: Kartoffeln, rote Beete, Karotten, Kohl, Äpfel, Getreide
O.K.
Fairerwaise muss man sagen, dass diese Zutaten auch schon so die hauptsächlichen Bestandteile der normalen estnischen Küche sind, aber nun eben noch ein wenig mehr ;-)


 Wiedereinmal war ich in Tallinn, da Mirjam noch gar nicht die Freuden der Hauptstadt erkunden durfte. Doch auch diesmal gab es wieder neue Akzente, beispielsweise den Blick vom Turm der Oleviste-Kirche, dem ehemalig höchsten Gebäude der Welt (ca. um 1250).


Ebenso hoch hinaus ging es im Viru Hotel, dem ersten Hochhaus Estlands und dem einzigen ausländischen Hotel zu Sowjetzeiten, denn die Erbauer waren Finnen. Zu Sowjetzeiten befand sich unter dem Dach ein verstecktes Lager des KGB, des sowjetischen Geheimdienstes, der das gesamte Hotel ausspähte. Heute kann man mehrmals am Tag in einer Tour den Turm besteigen und unter dem Dach nicht nur den Ausblick über Zallinn genießen, sondern auch durch die Originalräume schreiten. Zu sehen gibt es originales Material, gute Ausblicke und gleichzeitig darf man Geschichten und Anekdoten lauschen - beispielsweise über die Anschaffung des ersten Faxgerätes in 1989 (!), über die Verwendung von Kuchen und Kabarettkarten als hotelinterne Währung und über die Ausspähung von Personal und Gästen.


 Wenn auch in veränderter Form sind überall wieder Originalbeschriftungen angebracht worden, die es in diesem Geheimlager tatsächlich gab. Am Lächerlichsten erscheint der Verheimlichungsversuch des Heiligtums - des Funkraumes. Dort prangt an der Tür zur Abschreckung der Satz "Siin ei ole midagi!" - "Hier gibt es nichts zu sehen!". Sowjetagenten hatten ausgefeilte Methoden.


Am Samstagabend besuchte ich mit Mirjam die "Peter- und-Paul-Kathedrale", wobei ich das Wort Kathedrale immernoch übertreibend finde. Dort besuchten wir die englischsprachige römisch-katholische Messe (es gibt auch noch estnische, russische, lateinische und polnische). Es war keine besonders spektakuläre Messe, aber dennoch schön - war es doch meine erste katholische Messe in Estland. Leider konnte man den italienischen Priester wegen des Widerhalls kaum verstehen und ich vermisste die Begleitung einer Orgel oder wenigstens von Gesang schmerzhaft sehr.
Warum ich das alles sage? Um wieder auf meine 0.5 Prozent zu kommen:
In Estland gibt es keine hohe Kirchgängerrate. Mit 15 % bilden die Lutheraner die größte Religionsgemeinschaft, gefolgt von 8% russisch orthodoxen. Katholiken bringen es in Estland auf die besagten 0,5 Prozent - das entspricht 5000 Mitgliedern und 6 Kirchen. Estland besitzt daher im Strengen Sinne nicht einmal eine eigene Überdiözese, sondern ist ein Untergebit des Erzbistums Finnlands. In der Geschichte gehörte das Bistum Estlands zum Erzbistum Riga.
Die Kirchenentfernung der Esten hat viele Gründe. Estland war nie ein klassisches Land der Missionierung gewesen. Die ersten deutschen Kreuzritter, die Polen und die Orden brachten den Katholizismus nach Estland, die Schweden und die späteren Deutschbalten den Lutheranismus und schließlich die russischen Zaren das orthodoxe Christentum. Die verschiedenen Minderheiten wie die Seto und die Zwiebelrussen zeigen eine relativ hohe Religionszugehörigkeit - zur orthodoxen Kirche.
Die Peter-und-Paul-Kirche in Tallinn,
die ich am Samstag mit Mirjam zur
englischsprachigen Messe besucht habe.
Verbreitet waren in Estland auch verschiedene heidnische Glaubensrichtungen und diverse Spiritualismen. Später verringerte sich die Zahl der Kirchengänger durch die Sowjetpolitik noch mehr. Heute zählt Estland zu den Ländern mit der wenigsten Kirchenzugehörigkeit, wobei die Rate der Kirchgänger in allen drei "großen" Konfessionen wächst.
Doch gerade in diesem Land muss man Kirche von Religion und wiederum von Spiritualität trennen. Kaum ein Este gehört eine Kirch an, aber noch weniger werden sagen, dass sie nicht spirituell oder gläubig sind. Aufgrund vieler geschichtlicher und sozialer Faktoren lehnen sie jedoch einen Platz in der Kirche mitsamt ihren Dogmen ab. Spirituell sind sie jedoch schon - und das in allen Ausrichtungen. Esten fühlen etwas - ein etwas, dass sie nicht beschreiben können. Diese Ausrichtung bezieht sich sowohl auf ethnische Esten, als auch ethnische Russen in Estland. Sie glauben an den Umgang mit der Natur, an moralische Grundwerte, eine tiefe Verbindung und einen Sinn im Leben. Wo diese Ausrichtungen wieder liegen mögen, das unterscheidet sich weitgehend.
In Estland herrscht zudem ein recht verbreiteter Aberglaube, der so gar nicht zu den modernen Strukturen einer nach vorne gerichteten Gesellschaft passen will.
Zwei Beispiele, die ich selbst von Esten im Dorf gehört habe:
  1. Pflückt man Kräuter, so darf sich der eigene Schatten nicht über der Pflanze liegen, die man schneidet. Tut er dies doch, so legt sich die eigene Krankheit auf die Pflanze und überträgt sie an alle, die von der Pflanze zu sich nehmen.
  2. Taschen darf man nicht zwischen den Beinen abstellen - z.B. im Geschäft, im Wartezimmer oder im Auto. Das bringt Unglück.
Weitere Beispiele, von denen ich im Internet gelesen habe, sind "Pfeift man in seinem eigenen Haus, wird es kurz darauf abbrennen." und "Wer ein Hemd verkehrt herum anzieht, wird kurz darauf verprügelt.".
Auch gibt es im estnischen Fernsehen auffällig viele Serien und Dokumentationen aus Ländern wie Russland oder der Ukraine, die sich mit Wahrsagerei und Phänomenen beschäftigen.

Das zeigt:
Die Esten sind keine Kirchgänger, aber sie wollen auch nicht Atheisten oder Agnostiker genannt werden.
Die Esten glauben. An etwas.
Nur eben anders als vielleicht anderswo.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen