Sonntag, 13. Oktober 2013

Halleluja Berlin


Berlin - Halleluja Berlin
Alle wollen dahin
Also will ich das auch

                  Rainald Grebe


Knapp 9 Monate bin ich nun in Estland.
Das ist ein Zeitraum, in dem viel passieren kann.

9 Monate reichen aus, um ein Haus zu bauen.
9 Monate reichen aus, um schwanger zu sein.
9 Monate reichen aus, um alles zu verändern.




 


So war es auch ein sehr spannendes Erlebnis, am vergangenen Mittwoch das erste Mal seit 9 Monaten deutschen Boden unter meinen Füßen zu spüren. Seit der letzten Begegnung war ich in Finnland, in Russland, in Estland und in Lettland. Seit der letzten Begegnung habe ich eine neue Sprache gelernt, mich verändert und der Welt um mich herum beim Verändern zugesehen. 

Wer mit mir vor rund einem halben Jahr oder noch vor meiner Abreise gesprochen hat, der wird im Kopf behalten habe, dass ich es kategorisch abgelehnt hatte, in diesem Jahr meinen Heimatboden zu betreten. Nach langem Überlegen hatte ich diese Bedenken vor circa zwei Monaten über Bord geworfen, um in Deutschland die Chance zu nutzen meine Freundin Bettina, meine Freunde Linh und Nico und meine Familie zu sehen.



So wurden es sechs spannende, freudige und durchaus schöne Tage in Berlin und Leipzig. 
Ich habe mit Bettina ein wenig mehr von der Hauptstadt meines Heimatlandes gesehen, Zeit mit meiner Familie verbracht und ein wenig entspannt.

Mein Fazit?

1. Mein Besuch hilft mir, irgendwann tatsächlich heim zu kommen.
Viele Freiwillige fürchten den Heimbesuch, gerade weil viele befürchten, den "Abschiedsmarathon" noch ein zweites Mal durchleben zu müssen. Diese Angst hatte ich zwar nicht, jedoch hatte ich Bedenken in Bezug auf den Heimurlaub, weil ich befürchtete, die Kontinuität meines Dienstes zu verlieren. Dienst ist Dienst und Heimat ist Heimat. Weil ich gerne eine klare Abgrenzung zwischen "MEINER Heimat" und "MEINEM Jahr" haben wollte, stand ich einer vorzeitigen Rückkehr nach Deutschland eher skeptisch gegenüber. 

Zwar war es tatsächlich merkwürdig, all die alten Plätze wiederzusehen und in ein doch so anderes Leben wieder hineinzuschauen, jedoch überwiegt momentan doch eher die Euphorie auf die letzten Monate hier oben im Norden und die Zuversicht auf das, was in Deutschland auf mich wartet. Viel hat sich schon verändert in Deutschland und sicherlich wird noch einiges dazu kommen, doch ich bin der Meinung, dass dieser Urlaub mir schon geholfen hat, meinen "Wiederankommens-Schock" zu überwinden.
Fragt man EVS-Freiwillige nach ihrem Dienst, so werden die meisten sagen, dass das Wiederankommen in Deutschland einen größeren Kulturschock mit sich gezogen hat, als die Abreise.
Diesem Schock konnte ich jetzt ein wenig entgegenwirken, denn nun konnte ich meine Heimat und mein altes Leben einmal ganz unbefangen betrachten - schließlich bin ich ja hinterher wieder heimgekehrt. Das hat mir Gründe ins Gedächtnis gerufen, mich auf meine Wiederankunft zu freuen und schon ein wenig meine Angst vor der Abreise gelindert.

2. Ich hab das Großstadtleben verlernt

Schon am Frankfurter Flughafen schockte mich die Monumentalität in Deutschland. Der FRAPORT war mindestens genauso groß wie alle Flughäfen, auf denen ich bisher abgeflogen oder gelandet bin, ZUSAMMEN. Kaum entstieg ich dann in Berlin aus dem zweiten Flugzeug, musste ich knapp 30 Minuten für mein Busticket anstehen - in Estland hätten mir zwei Minuten gereicht. Überall lärmten Autos, Busse bliesen ihre Abgase in die Luft, Menschen drängten sich mit Koffern und Rucksäcken durch große Gruppen und die Flughafenansagen plärrten durch den Einheitsbrei an Gesprächen und Maschinengeratter. 

Im Stadtzentrum von Berlin angekommen, begann ich meinen kleinen Wald zu vermissen.
Alles war so groß, alles war so laut und irgendwie roch es auch alles ein wenig nach Müll.
So viele Menschen bestiegen so viele Autos und produzierten dabei viel zu viel Lärm.
Mit meinem kleinen Wald in einem Land, das nicht einmal halb so viele Einwohner hat wie Berlin, bin ich sehr verwöhnt. Saubere Luft, keine überfüllten Straßen und weniger brummende Autos.
Oft scherzen wir bereits bei einem Gegenverkehr von drei Autos über "stauähnliche Zustände" auf estnischen Straßen.
Deutschland darf mich gerne wieder aufnehmen, doch den Lärm und die Größe habe ich nicht vermisst.

3. Es gibt keine deutsche "nationale Einheit", von der immer alle reden sie würde zerstört
Bettina und ich besuchten in Berlin am Tag der deutschen Einheit das vom Coca-Cola-Konzern veranstaltete Fest vor dem Brandenburger Tor - nennen wir es einmal "Volksfest", denn mit dem Thema hatte das alles recht wenig zu tun. Gerade einmal wehte uns die deutsche Flagge entgegen - am Stand des Bundestages, der irgendwo zwischen Würstchenbude, Bowle-Bar und Riesenrad geparkt wurde.
Ich bin der Meinung, in Estland an jedem noch so kleinen Gedenktag mehr Flaggen zu sehen als am größten Nationalfeiertag Deutschlands. Am Flaggentag, am Tag der ersten Unabhängigkeit, am Tag der wiedererlangten Unabhängigkeit, ja sogar am Tag der Muttersprache, baumeln an jedem Haus Flaggen. Kein Haus wird hier ohne Flaggenständer gebaut. In Estland gibt es kaum ein Volkslied, dessen Text nicht jeder kennen würde. Und in Deutschland?
Außer bei der WM/EM keine Spur!


Mir fällt es schwer, der NPD zu glauben, der Islam, die Türken, die Vietnamesen oder sonst eine Volksgruppe würden die deutsche Identität stehlen, denn diese Identität sehe ich irgendwie nirgends. Schuld daran sind wohl die Jahre des Kaiserreiches und des Hitler-Regimes, in der jede Vielfalt und Identität im Versuch, etwas Künstliches zu erschaffen, niedergemetzelt wurde. Merkwürdig - im Versuch etwas Großes zu schaffen, wurde etwas Großes zerstört.
Die Jahre der Teilung haben dann der Identität den Garaus gemacht.
Deutsche Identität? Vielleicht erleben das MEINE Urenkel noch. 

Ich möchte hier niemanden oder irgendetwas anklagen. Ich lebe gern in Deutschland und bin gerne Deutscher. Auch identifiziere ich mich mit Sachsen, Leipzig und meiner Sprache und Vergangenheit. Aber ich bin der Meinung, es ist falsch zu sagen, dass Einwanderer die deutsche Kulturidentität schädigen, denn so etwas gibt es in Deutschland (noch) nicht. 

Alles in Allem bin ich sehr froh, diesen vorerst ungeplanten Urlaub getätigt zu haben. Ungeplanter Weise hat er mir sogar geholfen, die Angst vor dem Abschied aus Estland zu verarbeiten.
Jetzt blicke ich voller Zuversicht auf meine letzten Monate in Estland.
Dies ist ein guter Punkt, noch einmal öffentlich das klarzustellen, was ich mir seit einiger Zeit überlegt und nun beschlossen habe. Sollte die Möglichkeit bestehen, werde ich zwei Monate länger als geplant in Estland bleiben. Grund dafür ist auf der einen Seite, dass ich der Meinung bin, dass ich mit meiner Arbeit hier mental noch nicht abschließen kann. Auf der anderen Seite steht pragmatisch mein Mangel an Perspektiven innerhalb der 10 Monate, die mir zwischen Projektende und Unistart bleiben würden. 




So werde ich gegen Bezahlung samt Praktikumsvertrag im Dorf bleiben.
Anstatt zu Projektende Mitte Januar abzufliegen, werde ich so höchstwahrscheinlich Mitte März heimkehren.

Head aega,
Marcel

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