Montag, 28. Oktober 2013

Eine Stadt, Zwei Staaten


Was ist an diesem Bild so besonders?
Sehen wir hier etwa besonderes Laub?
Habe ich mir neue Schuhe gekauft?

Genauer betrachtet scheint an dem Bild nichts außerordentlich spannend.
Das dieses Bild uns doch so einfach möglich ist, verdanken wir der EU - oder besser gesagt dem Schengen-Abkommen, denn während mein rechter Fuß weiterhin in Estland steht, so befindet sich mein linker Fuß auf diesem Bild bereits in Lettland - einem anderen Staat.
Ausgeschildert wie eine Attraktion:
Der Grenzübergang
Dieses Motiv ist wohl eines der häufigsten gewählten Motive jener Touristen, die Valga, bzw. Valka, besuchen. Valga ist eine kleine Stadt am südlichen Rande Estlands, direkt an der lettischen Grenze, und gleich Zentrum des historischen Gebietes Livlands
Keine Tanke, sondern tatsächlich schon der Übergang
Direkt auf der andere Seite des kleinen Grenzhäuschens befindet sich das lettische Örtchen Valka. Das sich die beiden Namen "Valga" und "Valka" ähneln ist keinesfalls Zufall, sondern weist auch auf den Slogan der beiden Städte hin: "Valga/Valka - Eine Stadt, zwei Staaten".
Vor hunderten Jahren wurde hier die Stadt unter dem damaligen Namen Walk gegründet und war seither ein Zentrum estnischer und lettischer Gelehrter, bis bei der ersten Unabhängigkeitserklärung Lettlands 1917 und Estlands 1918 die Frage auftrat, wem denn die Hoheit über Walk gehörte.
Nachdem die Frage unter der Führung eines britischen Schlichters nicht geklärt werden konnte, teilte dieser die Stadt entlang des Dorfbaches. Der leicht größere Ostteil samt Bahnhof und Ordenskirche ging an Estland, der kleinere Ortsteil an Lettland. Zu Sowjetzeiten wurden die Grenzen zwischen der estnischen und der lettischen SSR wieder geöffnet, nach der Unabhängigkeit wieder eröffnet. Erst durch den Beitritt zum Schengenabkommen 2007 wurden die Grenzkontrollen wieder abgeschafft und man konnte die "andere Seite" der Stadt unkompliziert erreichen. Erst 2008 rollten wieder Passagierzüge von Riga nach Valga.
Ein großer begehbarer Zugwagen erinnert an die Eröffnung
der Fernstrecke Riga-Valga-Pskov
Heute warten die Bürger gespannt den 01. Januar 2014 ab, an dem Lettland den Euro einführt, der momentan noch eine große Barriere darstellt, da es sich für die Bewohner momentan zwecks Geldwechsel kaum lohnt, in den jeweils anderen Stadtteil zu gehen. Von der gemeinschaftlichen Währung werden beide Seiten profitieren.
Nachdem wir am Samstag das estnische Nationalmuseum in Tartu unsicher machten,  nutzten wir am Sonntag unseren Abstecher nach Valga, um uns nicht nur die Stadt Valga, sondern auch die lettische Stadt Valka samt deutschem Soldatenfriedhof, sowjetischem Mahnmahl und Sängerbühne anzusehen.
Zudem nutzten wir auch eine der wenigen sinnvollen Zugstrecken Estlands. Da Züge langsamer, teurer und unbequemer sind, lohnen sich nur wenige Strecken in Estland, die besser und günstiger sind als das gut ausgebaute Bussystem.
Züge spielen im gesamten Baltikum daher eher eine untergeordnete Rolle.

Am Mittwoch zuvor erinnerte uns ein kleines Tier, wie abhängig wir doch von Luxusgütern wie Elektrizität sind. Als wir gegen 23 Uhr den Bus von Tartu an unserer Bushaltestelle im Wald verließen und uns auf den Weg ins Dorf aufmachten, sahen wir schon hinter der ersten Waldbiegung: "Etwas ist anders!" Für gewöhnlich erblickt man hinter der Biegung einen kleinen Lichtpunkt am Ende des Weges, doch dieser wollte uns heute nicht ins Auge fallen. Im Dorf angekommen erwartete uns Dunkelheit. Keine Straßenlaternen, keine Notbeleuchtung, kein Licht in den Fenstern. Alles war in Dunkelheit getaucht. In unserem Haus angekommen erfuhren wir, dass gegen 8 Uhr abends der Strom im ganzen Dorf ausgefallen war.
So saßen wir bei Kerzenschein in der leicht ausgekühlten Küche des Vana Maja, kratzten unsere Trinkwasserreste zusammen und unterhielten uns bei warmem Licht und etwas zu essen. Eigentlich war es schon etwas peinlich, wie exotisch diese Sitatution auf uns wirkte.
Gegen ein Uhr nachts kam dann eine Welle an Geräuschen und Farben auf uns zu:
Die Straßenlaternen draußen und die Beleuchtung im Gang erstrahlten wieder, die Heizung begann wieder zu rauschen, das Wasser in den Spülkästen und Leitungen schoß nach. Der Strom war wieder da.
Bei Kerzenschein in der Küche: Markus, Meike (die gerade ein Praktikum in Tallinn macht und uns besuchte) und ich :)

Am nächsten Tag erfuhren wir, dass die ganze Gemeinde Vastse-Kuuste mit allen umliegenden Ortschaften vom Netz abgeschnitten war. Ein Biber hatte sich ein Abendessen geleistet und damit einen Baum auf eine Stromleitung gehetzt. Die Stromleitung zu ersetzen hatte knapp vier Stunden vollen Einsatz gefordert.
Wie große Auswirkungen doch manchmal kleine Dinge - wie das Abendessen eines Nagetiers - in sich tragen.

Mein Abschiedsgruß heute ausnahmsweise einmal auf Lettisch:

Uz redzēšanos!
Marcel

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