Freitag, 18. Oktober 2013

Mu isamaa on minu arm ...

Heute möchte ich noch einmal von meinen letzten Wochen und einigen Stichpunkten erzählen. Dabei hangel ich mich an Bildern den Handlungsfaden entlang.


 Ich hab's wieder getan und war wieder in Tallinn. Diesmal gab es jedoch jede Menge neue Gesichter kennen zu lernen - zum Beispiel Jutta, die ihren Freiwilligendienst jetzt in Tallinn angefangen hat.
Bei einer Feier in einer Freiwilligenwohnung stach deutlich wieder einmal ein Punkt heraus, der Deutsche (und zu Teilen Österreicher) von anderen Freiwilligen unterscheidet. Nicht nur, dass es viel mehr Freiwillige von dort gibt, sondern auch, dass diese viel jünger sind. Freiwillige aus anderen Ländern sind zumeist um die 23 oder sogar bis zu 30 Jahre alt. Deutsche Freiwillige sind beinahe alle gleich: 18 oder 19 Jahre alt und haben soeben die Schule beendet. In Deutschland gilt Freiwilligendienst als "GapYear" - als Lückenjahr. Eigentlich ein Segen.
Wenn ich mit anderen Freiwilligen aus anderen Ländern gesprochen habe, so ging es denenweniger um Lückenjahre, sondern um andere Dinge bishin zum Perspektivenmangel. Es sind Krankenschwestern aus Spanien oder Lehrern aus Italien, die keine Anstellung finden, Akademiker aus Mazedonien oder Bulgarien, die sich vorher im Heimatland als Kellner durchschlagen mussten oder Personen, die aus politischen oder persönlichen Gründen eine Auszeit aus ihrem Leben haben möchten. Das macht mich sehr dankbar für diese Möglichkeit, alles aus freien Stücken und ohne Perspektivlosigkeit erleben zu dürfen und ruft mir wieder ins Gesicht: Viele von uns haben echte Luxusprobleme!


Wir waren in Tallinn auch auf dem Lauluväljak, dem Singplatz von Tallinn. Jedes kleine Dorf in Estland hat einen eigenen überdachten Platz, an dem Chöre singen und Instrumente spielen können und vor dem man der Musik lauschen und den Tänzen zuschauen kann. Während beispielsweise UNSER Singplatz in Maarja Küla eine kleine Holzhütte ist, fasst der Singplatz in Tallinn 30.000 Sänger und der Schauplatz etwa eine halbe Million Menschen. Man sagt, man könne im Park vor und neben dem Singbogen die gesamte estnische Bevölkerung versammeln - 1,4 Millionen Menschen.
Gigantismus für ein so kleines Land.


Alle fünf Jahre versammeln sich die Esten zum großen "Laulupidu" - dem Singfest, bei dem dieser Platz bis auf die letzte Stelle gefüllt ist. Dann werden Volkslieder gesungen, tausende Sänger und Tänzer kommen in ihren regionalen Trachten und singen ihre Lieder. Obwohl Estland so klein ist und so wenige Menschen hier leben, verfügt es über einen der reichsten Schätze von Volksliedern, Volksweisen und von verschiedenen Trachten. Ähnlich wie in Schottland verschiedene Karomuster verschiedenen Klänen angehören, gehören verschiedene Trachtenmuster in Estland verschiedenen Regionen an. Hier ein Beispiel für das Muster der Insel Muhu - meinem Lieblingsmuster :)
Als zweites das Muster von Põlva, quasi das Muster "meiner Region".


Die Tradition der "Laulupeod" (Liederfeste) reicht hin bis ins frühe 19. Jahrhundert, als in Tartu Studentenverbindungen begannen, sich jährlich zu treffen, um Volkslieder zu singen. Diese Singfeste sind Tradition in allen drei baltischen Staaten, jedoch gilt dieser Tradition in Estland der höchste Stellenwert, wo überall das ganze Jahr Sing- und Tanzfeste stattfinden, das größte jedoch, dass Tallinner "Laulupidu" findet nur aller fünf Jahre statt - das nächste Mal 2014.
Das Singen ist für die Esten - gerade in der Sowjetzeit - wichtig geworden, um ihren Volksglauben und ihre Identität auszudrücken und über die Generationen weiterzugeben. Diese Tradition, das Gedankengut in die nächste Generation zu SINGEN, findet nicht nur auf Estnisch statt, sondern auch auf Võru und Seto. Võru ist eine Stadt in Südestland, in deren Region ein eigener Dialekt mit eigenen Wörtern gesprochen wird, von dem sich einige Wissenschaftler nicht einig sind, ob es nun ein Dialekt oder eine eigene Sprache ist. Gleiches gilt für Seto. Seto/Setu oder Setukesen sind die Einwohner Setomaa's, eines kleinen Landstriches an der russischen Grenze. Selbst Esten sagen, sie verstünden die Seto nicht, da sie eine Art "Urestnisch" ohne deutschen, finnischen und mit vermindertem russischen Einfluss sprechen.
Das folgende Lied "Mu isamaa on minu arm" war essenziell für die sogenannte "Singende Revolution" - die unblutige Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands in den 90er Jahren. Es gilt bis heute als die inoffizielle Nationalhymne, da es im estnischen Volkskongress nur deshalb nicht zur Hymne erklärt wurde, weil es als zu langsam und melancholisch galt.


 

Von meinem - am Jahresanfang ungeplanten - Heimurlaub habe ich bereits einen Eintrag zuvor berichtet. Dennocheinmal ein großes Dankeschön an alle, die ich treffen konnte. Es war ein schöner Urlaub.
Nicht jedoch für einen meiner Bewohner - Kalju (Name geändert) , von dem ich bereits berichtet habe. Er war während der Zeit meiner Abwesenheit krank und soll sich wohl erst wieder erholt haben, als ich wieder da war, berichtete mir meine Hausleiterin nun im Geheimen.
"Mida ma siis teiega teen, kui sa ära lähed?" war ihr Kommentar.
"Was mach ich nur, wenn du weggehst?"




Wir hatten die letzte Woche regelrecht ein "Full House", denn sowohl Alina hatte Besuch von ihrem Freund Moritz, als auch Markus, dessen Schwester und Großmutter gekommen waren.
Moritz, Alina und ich nutzten die Chance schönen Herbstwetters und begaben uns noch einmal auf den Fluss hinaus, um Boot zu fahren. Nachdem wir das Boot von geschätzten 100 Litern Moderwassers befreit hatten, ging es los - und bescherte uns eine super Fahrt bei untergehender Sonne.



Einen Tag später ging es los in die Nähe der russischen Grenze nach Setomaa, einem Gebiet einer eigenen Volksgruppe Estlands. Markus samt Familie, Alina samt Moritz, Mirjam und ich brachen also mit dem Auto auf und so fuhren wir - ich saß am Steuer - zunächst Richtung Värska, wo wir in ein Setomuseum gehen wollten, dass jedoch geschlossen haben sollte. Zunächst hielten wir am Wegesrand jedoch am Meteoritenkrater von Ilumetsa, keinem sonderlich spektakulären Krater, aber immerhin einem großen Loch im Wald, an dem früher heidnische Völker zu ihren Tempelritualen zusammen gekommen sein sollen. Zwar ist Estland das Land mit den meisten Meteoritenkratern pro Flächenmaß, jedoch hatten wir alle schon größere Löcher gesehen. :)
Über Värska, wo wir immerhin einen orthodoxen Friedhof besuchen konnten, die Kirche war nämlich auch geschlossen, verfuhren wir uns ein wenig in der Landschaft, konnten jedoch so immerhin zwei besondere Dinge in Anspruch nehmen:
1. In Russland zu sein - ohne Visum! Eine Straße von Värska führt nach Saatse. Es handelt sich um eine alte, unasphaltierte Straße und die einzige Straße, die nach Saatse führt. Da zwischen Värska und Saatse jedoch ein Zipfel Russland nach Estland hineinragt, fährt man auf dieser Straße durch Russland hindurch. Die Straße ist offiziell estnisches Gebiet durch einen Wald, der jedoch Russland ist. Man findet überall ein paar Zäune und Hinweisschilder, dass man die Straße nicht verlassen darf, da man ja offiziell durch Russland fährt. 



2. Konnten wir auf einer großen Schaukel schaukeln. Denn diese speziellen Schaukeln sind Teil der estnischen Volkskultur. Insbesondere in den langen Sommerabenden und besonders am Abend der Mittsommernacht wird auf den großen hohen Schaukeln zu siebt oder zu zehnt geschaukelt. In Lutepää auf dem Weg hielten wir nun an und bestiegen zu fünft das Ungetüm. Ein Spaß, den man in Estland auf jeden Fall einmal erlebt haben sollte.

http://www.puukuju.ee/catalogue/plog-content/thumbs/m__nguv__ljakud--playgrounds/kiiged--swing-sets/large/142-kiik3-1.jpg 

 Zum Ende des Tages gastierten wir noch Piiusa, wo wir in die Sandsteinhöhlen gingen. Diese wurden im 20 Jahrhundert zum Abbau von Rohstoffen zur Glasherstellung geschaffen und sind inzwischen zur Touristenattraktion erkoren, weil dieser Ort nach der Stilllegung nun auch unter Naturschutz gefallen ist, da in den Höhlen Fledermäuse überwintern. Die Touristenführerin erklärte uns auch, dass in den 90er Jahren Satanisten aus St. Petersburg hierher gekommen waren, um in den Höhlen Teufelsanbetungen zu feiern. Als dies bemerkt wurde, wurde es mit allen Mitteln unterbunden, ihr Altar jedoch steht immernoch in den Höhlen. 


Soweit war es das nun ersteinmal von mir. Wie immer habe ich reichlich Pläne für die nächsten Wochen und es wird bald wieder sehr viel zu erzählen geben.
In diesem Sinne:

Musi, kalli, pai,
Marcel

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